TRADITION IST NICHT DIE ANBETUNG DER ASCHE, SONDERN DIE  WEITERGABE DES FEUERS

 

Arnold Schönberg entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts eine Kompositionstechnik, die alle bis dahin gekannten Regeln der Tonalität brach. Man nennt diese Musik daher atonal. Diese neue Richtung steht für den Expressionismus in der Musik. Ähnlich wie in der Kunst zeichnet sie sich durch eine starke Ausdruckskraft aus, die auch Abstraktes und Hässliches zur Schau stellt. Nicht selten wirken die Kunsterzeugnisse dadurch befremdlich und unverständlich.

Es sind drei Komponisten, die wir in unseren 'musica suprimata'-Konzerten als „Schönberg-Schüler“ vorgestellt haben: Zunächst Viktor Ullmann und schon zeitgleich Norbert von Hannenheim und ein wenig später Philipp Herschkowitz.

Viktor Ullmann war Schönberg-Schüler in Wien ab 1919, Hannenheim in Berlin ab 1929, Herschkowitz war Webern-Schüler in Wien. Schönberg, Berg und Webern verstanden sich als Drillinge und sie wurden auch so empfunden; man konnte den einen nicht ohne die zitieren.

Während Viktor Ullmann sich in seinen frühen Kompositionen op. 3a und op. 5, der „Variation und Doppelfuge auf ein Thema von Arnold Schönberg“ mit dem 4. der 6 Stücke für Klavier op. 19 von Schönberg mit 21 Variationen einer nicht erhaltenen ersten Fassung auseinandersetzte, wählte er zuletzt 9 für die endgültige Fassung aus. Obwohl Ullmann 1918/19 für einige Monate in Wien bei Schönberg alle Facetten des Handwerks studiert hatte und zu jener Zeit zum inneren Kreis der Schüler zählte, entfernte er sich während der 20er Jahre dann doch von den Idealen seines Lehrers. In seiner 7. Klaviersonate, beendet in Theresienstadt am 22. August 1944, knapp 2 Monate vor seinem gewaltsamen Tod in Auschwitz, ist der dritte Satz fest in Ullmanns Beziehung zur Zweiten Wiener Schule verankert. Tatsächlich findet man hier einen der wenigen Momente, wo er einige Elemente der Zwölftontechnik verwendet. Formal ist dieser dritte Satz (wie schon der zweite Satz der ersten Sonate) als Palindrom komponiert: Der erste und der dritte Abschnitt sind als Original und Spiegelbild weitgehend identisch konstruiert. Eine elftönige Reihe wird aufgestellt, entwickelt und rückläufig geführt.

Norbert von Hannenheim hatte noch während seiner Studienzeit bei Ullmann viel Gelegenheit für öffentliche Aufführungen seiner Konzerte, manches wurde auch vom Rundfunk ausgestrahlt. Von eventuellen Mitschnitten ist nichts erhalten. Nach Hitlers Machtantritt und Schönbergs Weggang von Berlin nach Los Angeles hatte er keine Chance mehr für Öffentlichkeit. Er vergrub sich in seinem Untermieterzimmer und komponierte, sozusagen als einzige Lebensäußerung. Hunger greift nicht nur den Körper an, sondern auch die Psyche. Doch ist, so versichert Moritz Ernst, der Hannenheims Musik interpretiert, durchaus Zielgerichtetheit in seinen Kompositionen zu finden.

Bei Hannenheim handelt es sich um eine äußerst scharf profilierte Künstler-persönlichkeit. Zwar ist Hannenheim an der Welt gescheitert; es besteht aber heute Grund zur Hoffnung, daß die Welt nicht an Hannenheim scheitern wird“, so sein Herausgaber Albert Breier.

Als Philipp Herschkowitz zum Studium nach Wien kam, war Schönberg bereits nach Berlin gegangen. Und als Herschkowitz vor Hitler floh, war Schönberg schon einige Zeit in der Emigration. Webern gab Herschkowitz ein Empfehlungsschreiben auf die Flucht mit, sozusagen „To whom it may concern“, er sei voll zur Lehrtätigkeit berechtigt. Das gestattete ihm, als er sich endlich 1946 in Moskau niederließ, das Sowjetregime aber nicht. Alfred Schnittke, einer der vielen informellen Schüler Herschkowitz', die später im Westen reüssierten, fasste seine Bedeutung für die jüngeren Komponisten zusammen: "Herschkowitz beeinflusste jeden mit der Austeilung seiner ihm eigenen Seele. ... Die Ehrfurcht, die die jüngeren Komponisten für Herschkowitz empfanden, zeigt sich in Schnittkes 1988er Nachruf für den Komponisten, der begann: "Es ist schwer, jemanden zu finden, der so viele Generationen von Komponisten so stark beeinflusst hat ... Herschkowitz musste seinen Schülern nur noch sagen, was Webern ihm einmal von Beethovens Sonaten erzählt hatte, und aus seinem Mund war das Erklärung genug für Geschichte, Vorgeschichte und künftige Geschichte der bedeutendsten musikalischen Formen."


Von allen diesen drei Komponisten sind glücklicherweise Kompositionen in den Nachlässen vorhanden. Von allen dreien muss vieles als verschollen gelten. Doch was blieb, ist eine Musik, die auf keinen Fall „Petit Rien“ ist.



Viktor Ullmann und Norbert von Hannenheim

Beide wurden 1898 geboren, Ullmann in Schlesisch Teschen und Hannenheim in Hermannstadt.
Und auch dies: beide entstammten geadelten Familien: Hannenheim aus der Familie der Hanns, also der Schultheißen des Ortes, der ihren Namen trug, von Hannenheim. Ullmanns Vater, ein Jurist, war wegen militärischer Verdienste in den Adelsstand erhoben worden.
Beide waren Schüler Schönbergs, Ullmann in Wien und Hannenheim in Berlin.
Beide gewannen den Hertzka-Preis der Universal-Edition, Hannenheim 1933 und Ullmann 1934.
Beider Werke wurden trotzdem zu ihren Lebzeiten lediglich im Selbstverlag heraus-gegeben, der beginnende Nationalsozialismus war einer regelrechten verlegerischen Betreuung im Wege.
Beider Psychen kamen an ihre Grenzen der Belastbarkeit, sie passten in die furchtbar gewandelte Wirklichkeit nicht mehr hinein, als Mensch nicht und als Komponist nicht. Hannenheim brach, auch als Resultat von langwährender Unterernährung, zusammen und wurde in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Ullmann, auch er kaum noch wissend, wie sich und seine Familie zu ernähren,  konnte sich kurz vor dem Abgrund noch selbst retten, dadurch dass er ein Tagebuch anlegte, in dem er sich seiner selbst vergewisserte.
Beider Leben endete nach dem Willen der Nationalsozialisten gewaltsam. Ullmann wurde am 18. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet, Hannenheim starb in einer „Nervenheil-anstalt“ im Pommerschen, laut Totenschein an Herzversagen am 29. September 1945 im Landeskrankenhaus Obrawalde.
Von beider Werk muss nach Verfolgung und Krieg und Not vieles wohl bleibend als verschollen gelten. Doch muss man die Hoffnung nicht verloren geben, in der allerletzten Zeit fanden sich in öffentlichen Bibliotheken noch Noten von Hannenheim.

Welchen Beitrag zur Musik haben sie geleistet, was muss als solcher wahrgenommen werden und in welcher Form muss er für die Musikgeschichte gewürdigt werden?

Eine neuartige Harmonik zwischen Tonalität und Atonalität – Viktor Ullmann sprach selbst von „Polytonalität“ -, hochgespannter musikalischer Ausdruck und meisterliche Beherrschung der formalen Gestaltung gehören zu den Charakteristika von Ullmanns unverwechselbarem persönlichem Stil.
Gegenüber seinem Freund, dem Komponisten Karel Reiner -  wie er in Theresienstadt inhaftiert, doch konnte dieser überleben - äußerte er sich: «Der Schönbergschule danke ich strenge – will sagen logische – Architektonik und Liebe zu den Abenteuern der Klang-welt, der Hábaschule die Verfeinerung des melodischen Empfindens, den Ausblick auf neue formale Werte und die Befreiung von dem Kanon Beethovens und Brahms’».
Es wird, nicht so sehr aufgrund seines Verfolgungsschicksals, das er so wie unzählige Andere erlitt, als vielmehr wegen seiner Meisterung dessen, immer etwas Besonderes bleiben, die durch Viktor Ullmann geschaffene Musik zur Wahrnehmung und Diskussion zu bringen, und doch ist es im besten Sinne normal, zwischen den Klavierkonzerten eines Ravel oder Schostakowitsch eines von ihm zu finden. (Jitka Kozeluhová)

Norbert von Hannenheims Musik weist zwar noch oft expressionistische Züge auf, doch leidet sie nicht an der charakteristischen Kurzatmigkeit des Expressionismus der zehner und frühen zwanziger Jahre. Seine kontrapunktische Meisterschaft befähigt ihn dazu, auf überzeugende Weise ausgedehnte absolut-musikalische Strukturen zu schaffen. Die ausdrucksmäßige Intensität lässt dabei aber keinen Augenblick nach. Es ist wohl das Insistierende, Nachdrückliche von Hannenheims Musik, das die Begegnung mit ihr zu einem unvergesslichen Erlebnis werden lässt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Musik Interpreten finden wird, die sich ihrem großen Anspruch nicht entziehen. Fast alle erhaltenen Kompositionen Hannenheims haben das Zeug zu Repertoirestücken. Zwar ist Hannenheim an der Welt gescheitert; es besteht aber heute Grund zur Hoffnung, daß die Welt nicht an Hannenheim scheitern wird. (Albert Breier)



Schon in den ersten Konzerten der 'musica suprimata' zeichnete sich ab, dass der Pianist Moritz Ernst einen außerordentlich intensiven Zugang zu Norbert von Hannenheim hat. Analytische Fähigkeiten spielen dabei ebenso eine Rolle wie seine empathische Einstellung. Schon 2011 wurde geplant, dass es eine Kooperation zwischen Deutschlandradio Kultur und dem CD-Label EDA geben soll, die dann zur Veröffentlichung der Doppel-CD der Klaviersonaten Norbert von Hannenheims und Viktor Ullmanns im März 2014 führte.

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In einer Sendung am 3. Mai 2014 unterhielten sich Stefan Lang von Deutschlandradio Kultur und Moritz Ernst über diese Einspielung bzw. über das, was die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede zwischen Viktor Ullmann und Norbert von Hannenheim sind:
St.L. Moritz Ernst spielt, was oft nicht spielbar erscheint und hat eine wahre Freude daran, die ganzen vertrackten Dinge übereinanderzulegen. Das ist eine herausfordernde Qualität an das Klavierspiel wacher Interpreten.
M.E. Absolut, dem kann man nur zustimmen, wobei mich als Pianist diese Werke oder Werke dieser Stilistik immer ganz besonders herausfordern- eine Vielzahl an parallel laufenden Stimmen, die eigentlich alle ähnlich wichtig sind, dennoch differenziert voneinander hörbar zu machen und dadurch das Ganze als Musikwerk erlebbar zu machen, ohne dass man das Gefühl hätte, hier einer mathematischen Studie beizuwohnen.
St.L. Das ist die premial liga des intellektuellen Klavierspiels.
M.E. Wenn man so will, könnte man es auch so nennen, ich denke immer noch, dass in allererster Linie die Musik im Vordergrund steht, dass selbst hochintellektuelle Musik wie die Hannenheims zweifelsohne ist, immer noch als Musik erlebbar sein muss auch letztlich Musik   i s t , allen komplexen Aufbaus zum Trotz.
St.L. Was haben beide (Hannenheim und Ullmann) gemeinsam oder was trennt sie?
M.E. Es sind zwei Komponisten, die auf den ersten Blick scheinbar gar nichts außer ein paar biografischer Notizen gemeinsam haben, man kann beim zweiten Hinschauen allerdings doch Gemeinsamkeiten entdecken, insbesondere was gewisse formale Voraussetzungen anbelangt. Beide versuchen sie die romantische viersätzige große Sonatenform zu vermeiden. Ullmann vermeidet ja zunächst die viersätzige Form und bleibt bei der kleineren klassischen dreisätzigen Form, Hannenheim ist sogar soweit gegangen, die dreisätzige Form auf eine zweisätzige Form, also wie in den späten Beethoven-Sonaten, namentlich op. 111, zusammenzudampfen, und beide verzichten natürlich auf lockere, heitere Scherzo-, Menuetto-Sätze. Dennoch ist Hannenheim von ganz anderer Art mit seiner formalen Arbeit, die nichts zu tun hat mit der vergleichsweise traditionellen thematisch-motivischen Arbeit eines Viktor Ullmann, und auch diese strenge Polyphonie und Kontrapunktik wie ein Hannenheim hat in dieser Art ein Ullmann nicht durchgezogen.
St.L. Wieviel Sonate ist da noch drin oder ist die Form hier eher eine Krücke?
M.E. Ich denke, dass es eher eine Sonatenform in einem ursprünglichen Sinne ist, dass es ursprünglich auch von Scarlatti her gedacht sein könnte, also "Sonare" dem Klingstück. Natürlich merkt man, dass er sich in einer Tradition befindet, wo die Sonate ganz andere Dimensionen erreicht hat, nichtsdestotrotz denke ich, dass er hier auf eine frühere Form der Sonate zurückgreift.
St.L. Wir hören jetzt die 3. Sonate. Worauf sollten wir achten, um mitzuhören, was Norbert von Hannenheim da erdacht hat?

M.E. Ich würde doch erstmal ganz unvoreingenommen da rangehen und einfach reinhören, um einfach mitzubekommen, wie feinsinnig er gewisse Motive langsam aber sicher permanent permutiert

St.L. Jetzt werden wir uns der Ullmann-Sonate Nr. 7 zuwenden und erstmal auf die besondere Situation eingehen: das hat der Viktor Ullmann im Konzentrationslager komponiert.
M.E. Eine Situation, in die wir uns, und auch ich als Interpret, nur sehr schwer hineinversetzen können. Die Situation im Lager muss eine sehr harte gewesen sein, insbesondere, weil seine Musiker, mit denen er dort tapfer weitergearbeitet hat, nach und nach immer wieder verschwanden. Ironie der Geschichte: dass Ullmann aus-gerechnet mit dem letzten Zug nach Auschwitz deportiert wurde und dort vergast wurde.
Die 7. Klaviersonate ist formal aufgrund ihrer Vielsätzigkeit schon ein besonderes Werk. Ganz besonders ist natürlich der letzte Satz, wo er noch einmal die gesamte Tradition und auch des eigenen Lebens in einem Satz kumulieren lässt, das lässt sich schon daran erkennen, dass es zunächst ein Variationssatz ist, ein hebräisches Volkslied, später in der Fuge kommen dann Choräle vor, der Hussitenchoral, natürlich das unvermeidlich b-a-c-h-Motiv an sehr prominenter Stelle, ich habe sogar noch ein Wagner-Motiv entdecken können; hier bietet er noch einmal alle Kräfte auf, um das, was ihn scheinbar beeinflusst hat, aufzubieten (zu rekapitulieren).
St.L. "Nun danket alle Gott" steckt auch drin, sogar gut hörbar, gut erhörbar. Das sind natürlich auch programmatische Dinge, die er widerspiegelt oder aufnimmt. Wie tritt er mit diesen Dingen in Kommunikation, oder was willer mit denen?
M.E. Da bin ich mir selber im Unsicheren, was er damit alles ausdrücken wollte, es sind auch relativ disparate Elemente, die er dort zusammensetzt. Ich würde sagen, dass er damit das für ihn Wichtigste aus der Musiktradition in einen gemeinsam, alles verbindenden Kontext bringen wollte.

St.L. Hannenheim Nr. 12: Wir wollen uns nochmal dieser komplizierten Stilistik, dieser vertrackten Kompositonsstrategie des Hann von Hannenheim zuwenden. Die Sonate Nr. 12 steht am Ende, könnte er in den 1940ern geschrieben haben. Es ist bei Hannenheim nicht immer genau oder überhaupt fast nie nachzuweisen, wann ein Werk entstanden ist. Was meinen Sie, ist da schon so eine psychische Spaltung werkimmanent?
M.E. Das ist das, was man sich bei vielen seiner Werke unmittelbar fragt, weil sie formal oftmals überhaupt nicht fassbar sind. Dies gilt auch insbesondere für den letzten Satz der 12. Sonate. Er läuft und läuft, und man meint, dass sich gewisse Motive wiederholen und dann meint man doch, dass sie sich nicht wiederholen. Das ist letztlich auch - Albert Breier hat es in seinem CD-booklet so wunderbar ausgedrückt - eine Art Doppelgängertum. Ein bestimmtes Motiv kann bei Hannenheim beliebig viele Doppelgänger haben, die sich minimal voneinander unterscheiden und doch eigenständige Figurationen sind. Die können dann aufeinander prallen, und es ist nicht immer klar, wer denn von den beiden die Oberhand behält, das kann ganz unmittelbar ändern, es ist ein sehr spannendes Werk und letztlich so der Rückschluss von Albert Breier, ist es auch so, dass es eine Wider-spiegelung der sehr hart gewordenen Wirklichkeit im nationalsozialistischen Alltag war, wo selbst scheinbar gleichartige Leute auf einmal hintenrum zum Feind mutieren konnten, selbst Leute, die "Doppelgänger" waren, die auf einmal auch ihre Seite wechseln konnten. Ähnliches passiert tatsächlich auf skurrile Weise mit seinen Themen; man hat immer das Gefühl, dass man sich in einem organischen Ganzen bewegt, welches von einer Art höherer Macht gesteuert wird.
St.L. Man könnte, wenn noch einen Schritt weiter geht, sagen, das Ich löst sich auf. Was ist es eigentlich, was zur Stabilität des Ichs, des Motivs, des Themas, der Spielart beiträgt, immer wieder in dem anderen auch zu entdecken ist, wenn es wieder in anderen Formen, anderen Formfetzen, in anderen Formmotiven auftaucht?
M.E. Es ist letztlich eine Art mutiples Ich, welches in verschiedenster Form auftreten kann. Dass das Ganze immer noch als eine in sich geschlossene Form erlebbar ist, ist das Faszinierende an seiner Musik und macht die Großartigkeit seiner Musik aus und ist der Grund, warum ich mit so großem Appetit diese Musik einstudiert habe. Was dies Ganze formal zusammenhängend macht, ist in meinen Augen seine höchstavancierte Reihentechnik, die zum Teil doch weit über die vergleichsweise akademische Reihen-technik seines Lehrers Arnold Schönberg hinausgeht. Schönberg hat ja stets im dodekaphonen, also 12tönigen Bereich komponiert, die Reihen des Norbert von Hannenheim können, wie zum Beispiel in einer der Bratschensonaten, bis zu 52 Töne erreichen. Daraus lassen sich eine Vielzahl an neuen Reihen, Unterreihen, Zwischenreihen ableiten, die dann alle mit der Originalreihe zusammenhängen und damit das Tonmaterial determinieren und ein geschlossenes Ganzes dennoch erlebbar machen.
St.L. Es muss doch unheimlich schwer sein, nach der ersten Inansichtnahme des Notenmaterials erstmal eine Übersicht zu gewinnen, oder wie machen Sie das?
M.E. Wie man es macht, ja das wüsste ich im Rückblick auch gerne, wie ich das gemacht habe. Ich war nämlich vollkommen naiv daran gegangen. Ich hatte die Noten mehr oder weniger per Zufall zugespielt bekommen. Ich habe sie mir aufs Notenpult gestellt und mich dann durch diesen scheinbaren Notenwirrwarr durchgespielt und dann auch langsam Unwichtigeres von Wichtigerem, also Hauptstimmen von Nebenstimmen getrennt und geschaut, was ist für das Verständnis des Hörers dieses Musikwerkes besonders wichtig, dass er es mitbekommt. Was ist verändernd, was ist gleich, um da im Laufe der Zeit zu einer Gewichtung zu kommen, welche oftmals nur in kleinsten Phrasierungsdetails sich niederschlug und dann versucht, nach und nach, es war durchaus eine langwierige Arbeit, ein geschlossenes Ganzes draus zu bilden, nicht zuletzt, weil ja auch manchmal einige seiner Werke verblüffend abrupt enden. Dass man da einen wirklich geschlossenen dramaturgischen Bogen reinbringt, ohne deshalb die fragmentarischen Teile dieser Werke zu negieren.
St.L. Gibt er da Hilfen, der Norbert von Hannenheim, dass er in den Notentext reinschreibt, das zu dem oder das zu dem, dass man so ein paar interpretatorische Hilfsstellungen bekommt?
M.E. Da ist so gut wie nichts, es ist fast eine barocke Partitur, was auch im gesamten Notenbild sich niederschlägt. Er ist ja permanent sehr, sehr polyphon, er schreibt fast durchgehend dreistimmig, er muss ein Meister des Kontrapunktes gewesen sein. Insbesondere in seiner 3. Klaviersonate der 2. Satz ist ja wirklich ein ganz klassischer Note-gegen-Note-Kontrapunkt, also er gibt erstaunlich wenig interpretatorische Hinweise, ab und an, wo es ihm scheinbar besonders wichtig war, mal einen dynamischen Hinweis - sehr leise, sehr laut -, rein auf die Artikulation bezogen, gibt er nahezu gar keine Hinweise, also ein weißes Blatt Papier fast.
St.L. Er hat geschrieben, gesagt: Wir leben in einer Umbruchzeit, der Teufel, alle Teufel sind los, ich bin auch so ein Teufel. Das passt dazu. Ende der Dreißiger Jahre von Norbert von Hannenheim zu Papier gebracht.

St.L. 6. Klaviersonate Ullmann: Edith Kraus hat sie in Theresienstadt uraufgeführt, sie ist im vergangenen Jahr im Alter von 100 Jahren verstorben. Ihr ist diese Doppel-CD gewidmet. Es ist, Moritz Ernst, eine Sonate, die zwischen Disziplin und Fantasie pendelt?
M.E. Absolut! Es ist für den späten Ullmann in meinen Augen kennzeichnend, dass er wieder traditioneller anfing zu komponieren, als er sich noch mehr auf die romantische Tradition der Sonate berief. Bemerkenswerterweise ist diese Sonate ja eine viersätzige Sonate, wobei der 4. Satz eines Rekapitulation des 1. ist, dass wir es mit einer Rahmenform zu tun haben, einer in sich besonders geschlossenen Form, ich würde sagen, als Bollwerk gegen die aus den Fugen geratene Welt um ihn herum - wobei das vielleicht etwas frei ist, aber es war immer mein Gefühl beim Spielen der Sonate, die im übrigen vor allerhöchster Dramatik nicht zurückschreckt.
St.L. Sie haben ja dieses Doppelgängerphänomen, das Albert Breier im Programmhefttext so toll aufgebracht hat, indem er es auf den Punkt bringt, auf Hannenheim beschrieben. Das kann man natürlich auch für Ullmann bringen, oder?
M.E. Denke ich absolut. Beide Komponisten lebten ja in derselben Zeit und hatten mit denselben politischen Problemen zu kämpfen, die ihr gesamtes Wirken in Frage stellten, lediglich bei Ullmann vielleicht noch verschärft durch seine jüdische Herkunft, wobei letztlich Hannenheim mit seiner als "entartet" gebrandmarkten Musik nicht viel besser da stand. Ich finde bei der 6. Sonate ganz besonders den 3. Satz, der in einem Dreivierteltakt steht und immer wieder ein absolut fratzenhafter Walzer hervorschaut, der galt ursprünglich als Sinnbild eines bürgerlich geregelten Lebens und kann nur noch als widerwärtige Fratze hin und wieder einmal hervorblicken.
St.L. Das Zerfetzen der Tradition.
M.E. Absolut.

Ein Jahr, nachdem die Studio-Einspielungen für die CD beendet waren, äußerte sich Moritz Ernst aus dem zeitlichen Abstand heraus noch einmal über seine Nähe zu Hannenheims Klaviersonaten und kurz zu Ullmann's:
"Oft wird man gebeten, einige verständniserleichternde Sätze zu einer Aufnahme zu schreiben - nichts jedoch scheint dem ausführenden Musiker schwerer zu fallen als dies. Zu lange und zu oft, hat er sich mit der Musik auseinander gesetzt, als dass er sich ohne weitere vorstellen könnte, dass dem normalen Hörer der Zugang zu diesen Werken verwehrt bleiben könnte. Dabei ist dies im Falle der Werke Norbert von Hannenheims keine wundersame Sache, es sind die scheinbar hermetisch abgeriegelten Werke eines scheinbar wahnsinnigen Geistes, der selbst komplexe Werke von Skizzen sogleich zu Papier brachte. Auch mir fiel der Zugang zunächst schwer und ergab sich dann zunächst über die 3. Sonate, was wenig verwunderlich ist, da man ihr als Hörer am besten mit dem tradierten Formgefühl beikommen kann. Schnell erschlossen sich mir dann die langsamen Sätze, Werke von einer kristallinen Eleganz und kühlen Klangschönheit, die aufs feinste mit der perfekten polyphonen Stimmführung harmonieren. Am schwierigsten sind einige der schnellen Sätze. Scheinbar gibt es kaum thematische Zusammenhänge, die Musik rast (übrigens aufs übelste gegen den Pianisten geschrieben!) am Hörer vorbei und ist plötzlich zu ende. Hier hilft nur das oftmalige Hören, denn es gibt sie, die feinen Motivverwandtschaften, die sich in ihrer Feinheit nur ergeben, da Hannenheim nicht wie sein Lehrer Arnold Schönberg nur zwölftönige , sondern wesentlich längere Reihen verwendet. Dies macht die Sache zwar etwas undurchschaubarer, aber zugleich belebt sich das harmonische Klangbild ungemein und die Variationsmöglichkeiten steigen ebenfalls.
Ganz anders die Werke seines Kollegen Viktor Ullmann. Die Werke nur aus der theresienstädter Perspektive zu sehen, greift für mich zu kurz. Bereits in seinen frühen Sonaten ist er da: der zupackende Geist, der zwar aufwuchs in der romantischen Tradition, aber seinen musikalischen Stil in den rabiaten 20er Jahren entwickelte. Zupackende Rhythmik, brilliante Pianistik, gepaart mit feinstem Gespür für Kontrapunktik. Und vergleicht man seine beiden vielleicht ergreifendsten langsamen Sätze, die Hommage an Gustav Mahler in der 1. Sonate mit dem bestürzende Mahnmal für seine Frau in memoriam in der 5. Sonate, so muss man feststellen, dass hier bereits früh einer der ganz großen am Werk war.
Ich wünsche dem Hörer dieser Musik, dass es ihm ergeht wie mir, als ich erstmals, fehlgeleitet durch eine Suchmaske einer Bibliothek, mit Ullmann in Berührung kam: Sofortige Begeisterung ob der Kraft seiner Musik, gepaart mit dem Wunsch, mehr davon zu hören.



Es ist möglich, mehr davon zu hören. Hier sind einige Links:

Klavierkonzert Viktor Ullmann mit Moritz Ernst und den Dortmunder Philharmonikern unter Daniel Feltz
https://soundcloud.com/max_stern/2014-09-16-dortmund-ernst-1schnitt

Porträtsendungen über Hannenheim und Ullmann können Sie hier hören:

Musik von Norbert von Hannenheim und Viktor Ullmann
http://www.wdr3.de/musik/moritzernst102.html (eine Stunde)

WDR 5 ZeitZeichen vom 18.10.2014: 1944 - Der Todestag des Komponisten Viktor Ullmann
http://www.wdr5.de/sendungen/zeitzeichen/viktorullmann106.html (eine Viertelstunde)