TRADITION IST NICHT DIE ANBETUNG DER ASCHE, SONDERN DIE  WEITERGABE DES FEUERS

 




Die Zweite Wiener Schule



Alban Berg (1885 - 1935 Wien)
http://www.absw.at

Berg war der erste Komponist der Zweiten Wiener Schule, der große Werke auf der Basis des Atonalen konzipierte. Geboren in Wien, verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens in der österreichischen Musikmetropole. Vielseitig begabt, hatte er zunächst mehr Interesse an Literatur, als an Musik, wurde aber 1904 von Arnold Schönberg als Privatschüler aufgenommen und daraufhin in die Welt der klanglichen Grenzüberschreitung und der Zwölftonmusik eingeführt. Beeindruckt von seinem Mentor, dem er ein Leben lang freundschaftlich verbunden blieb, versuchte Alban Berg daraufhin, seinen eigenen Weg der Klanggestaltung zwischen Atonalität und Dodekaphonik zu finden. Bis 1906 arbeitete er noch als Beamter, widmete sich von da an aber hauptberuflich der Musik.Sich in Wien mit einer Klaviersonate als Opus 1 dem Publikum vorzustellen, hatte hochsymbolischen Charakter und war ein heikles Unterfangen. Die Sonatenkunst eines Beethoven, Schubert und Brahms rückte unweigerlich vor das geistige Auge der Hörerinnen und Hörer und legte die Messlatte auf klassische Höhe. Dies musste Alban Berg schmerzlich erfahren, als die Uraufführung seiner Klavier-sonate Opus 1 durch die Pianistin Etta Werndorf 1911 zu stürmischen Protesten führte. Das einsätzige, harmonisch wie formal über die Spätromantik hinausgreifende Werk wirkte auf die Zeitgenossen wie eine Verhöhnung der großen Wiener Tradition, obwohl es sie natürlich in aller Emphase fortführte. Aus einem harmonisch gleichsam aufgeladenen Material - Bergs Tribut an seinen Lehrer Arnold
Schönberg auf dem Stand von dessen erster Kammersinfonie - entwickelt sich im Rahmen eines einzigen großen Satzes eine komplexe Sonatenform aus Exposition, Durchführung, Reprise und Coda.
Es war Schönberg, der seinem Schüler Berg geraten hatte, dieses Stück aus den Jahren 1907-1908 als sein Opus 1 zu publizieren.


Alban Berg zum 125. Geburtstag: Überströmende Wärme des Fühlens

Er ähnelte Oscar Wilde und war ein sensibler Grandseigneur, er mied die Menge, aber hochmütig war er nicht, eher selbstironisch. Er habe "den größenwahnsinnigen Eindruck, dass der Wozzeck etwas ganz Großes ist", schrieb Alban Berg seiner Frau vor der Uraufführung. Dass es am 14. Dezember 1925 in der Berliner Staatsoper lauten Beifall gab, irritierte ihn. Konnte man ihn verstanden haben? Die Oper wurde umgehend an so vielen Häusern gespielt, dass der Komponist mit den Tantiemen ein Ford-Sport-Cabriolet bezahlte, von dem er sogar ein Foto an seinen Lehrer Arnold Schönberg schickte. Der wird es mit einem gewissen Zähneknirschen betrachtet haben. Er, der den elf Jahre Jüngeren erst auf den Weg gebracht hatte, war ein weniger umjubeltes Genie. Heute zählt Bergs Wozzeck zu den Höhepunkten des Musiktheaters und zum festen Repertoire der großen Opernhäuser.

Alban Berg, geboren am 9. Februar 1885, kam aus der Familie eines wohlhabenden Exportkaufmanns, Schönberg hatte sich als Sohn eines kleinen Schusters zur Leitgestalt der Avantgarde hochgearbeitet, seine gefürchtete Strenge hat viel damit zu tun. Und Wozzeck war das Werk, mit sich Berg von seinem Lehrer emanzipierte. Er ist sicherlich der romantischste Komponist der so genannten Wiener Schule, aber weder Wozzeck noch andere Werke Alban Bergs sind eine Musik, die man mitpfeifen kann. Das wird zwar auch niemand als Kriterium für gute Musik festsetzen wollen, aber noch immer wagen sich viele gar nicht erst ans Hören, weil ihnen zu Berg erst einmal "Zwölftonmusik" einfällt, zu der sich zäh die Ansicht hält, sie vergewaltige das natürliche Hörempfinden und sei sozusagen das Grundübel einer Avantgarde, die völlig verkopft  vor sich hinbrösele. Alban Berg bietet die besten Möglichkeiten, jede dieser Annahmen durch ihr Gegenteil zu ersetzen. Was die Zwölftonmusik angeht – im Wozzeck setzt er sie noch gar nicht methodisch ein, dogmatisch tut er es nie; auch Schönberg selbst war da nicht orthodox. Dass entsetzte Kritiker des Wozzeck (die gab es auch) kein "Harmoniegebäude" mehr erkennen konnten, hatte andere Gründe. Das tonale System mit seiner Grundspannung zwischen Tonika und Dominante, ohnehin erst im 17. Jahrhundert einigermaßen stabil, war am Ende des 19. Jahrhunderts bis an die Ränder der Auflösung strapaziert worden, und einige Komponisten beschlossen, sich nicht mehr daran zu halten. Sie schrieben atonal, was nicht schräg heißt, sondern zwanglos. Durakkorde sind erlaubt (es gibt sie sogar in der Zwölftonmusik), alles andere aber auch.

Im Wozzeck hat Berg all das gemacht und dabei größte Klarheit und Tiefe der Konstruktion mit größter Ausdruckskraft verbunden. Es geht um Menschen, deren Ich zerbricht. Was er zu erzählen hatte, brauchte eine neue Musiksprache, denn Berg hat in dieser Oper verarbeitet, was er im Ersten Weltkrieg erlebte. "Unfrei, resigniert, ja gedemütigt" fühlte er sich als Soldat im Ausbildungslager, und der hilflose Soldat aus Georg Büchners Drama Woyzeck war seine Figur für die Deformationen des Krieges. Wenn Wozzecks Frau Marie, die ein grausames Ende ahnt, ihrem Kind prophetisch sagt: "Es war einmal ein armes Kind und hatt' keinen Vater und keine Mutter", dann heben sich dazu spätromantische Harmonien und Hornklagen aus der nichttonalen Umgebung wie ein unerreichbares Gestern.

Schon in den frühesten Stücken seines Schülers vernahm Arnold Schönberg eine "überströmende Wärme des Fühlens". Dem Fühlen ist auch die Zwölftonmusik nicht im Wege. Ihr Erfinder Schönberg machte die Demokratie zur Methode: Jeder der zwölf Töne, in die eine Oktave (in der westeuropäischen Musik) geteilt wird, ist gleichberechtigt, ein tonales Zentrum entfällt, die Tonleiter wird durch eine Reihe von zwölf Tönen in frei wählbarer Folge ersetzt, die zugleich das Kernmotiv ist. Als Berg, obwohl glücklich verheiratet, sich während der Wozzeck-Zeit in die Schwester des Schriftstellers Franz Werfel verliebte, bekannte er seine Gefühle in einem Streichquartett, der Lyrischen Suite. Darin komponierte er so zwölftönig wie ungebunden, und im verzweifelten Finale führt er die vier Instrumente zum berühmtesten Liebesakkord der Musikgeschichte, zu Wagners Tristanakkord.

Alban Berg liebte Zitate. Er zitierte auch Volkslieder und Trivialmusik, er liebte es, die Sphären zu verknüpfen, und gerade die stärksten Gefühle brachten ihn zu Verbindungen neuer mit alter Musik wie in seinem Violinkonzert. Er schrieb es in Trauer um Manon Gropius. Die überirdisch schöne Tochter von Alma Mahler und Walter Gropius, dem Architekten, war mit 18 Jahren an Kinderlähmung gestorben. Dem Andenken eines Engels widmete Berg dieses instrumentale Requiem, das sein eigenes werden sollte, und am Ende wird Johann Sebastian Bachs Choralmelodie Es ist genug von der Solovioline angestimmt, zwölftönig und zart von Bratschen und Fagott begleitet.

Man schrieb das Jahr 1935, und es ging Berg nicht gut. Die Nazis hatten in Deutschland seine "entartete Musik" verboten, Tantiemen blieben aus, und in dieser Existenzfraglichkeit nahm er die Furunkulose nicht besonders ernst, an der er nach einem Insektenstich erkrankte. Am 24. Dezember erlag er in Wien der Blutvergiftung, die sich entwickelt hatte. In einem Brief zu seinem 50. Geburtstag hatte ihm sein Lehrer Schönberg, als Jude längst ins kalifornische Exil geflohen, noch das größte Lob seines Lebens gemacht: "Du, der als einziger unserer Sache allgemeine Anerkennung zu gewinnen imstande warst." Es empfiehlt sich, diese Sache mit Alban Berg wieder ganz neu zu entdecken. Volker Hagedorn http://www.zeit.de/kultur/musik/2010-02/alban-berg-125/komplettansicht


Zwölftöner: Das neurotische Duo

Der Briefwechsel der Komponisten Arnold Schönberg und Alban Berg ist die Chronik einer genialen Beziehung. In der Post ist mal wieder ein Brief von Berg. Schönberg öffnet, blättert, ächzt. Zwölf Seiten, viel Tinte. Schönberg antwortet sofort. Berg möge sich kürzer fassen. »Ihre Formalitäten nehmen Ihnen zuviel Zeit weg. Abgewöhnen!!« Er schreibt noch mehr an diesem 28. November 1913, schließlich geht es um das Programmheft zu seinen Gurreliedern, um das der Schüler sich kümmert. Der kümmert sich überhaupt um alles. Er hat des Meisters Umzug von Wien nach Berlin organisiert und die Kisten gepackt. Er korrigiert Notenmaterial, schreibt Klavierauszüge und betreut eine Geldsammlung zugunsten des Lehrers, dem eine Professur beharrlich verweigert wird. Alles tut er für ihn in Wien, über alles schreibt er so ausführlich, dass er einmal davon »ein Hühneraug« bekommt.

1302 Seiten hat die Gesamtausgabe der Korrespondenz zwischen dem Erfinder der Zwölftonmusik und seinem genialsten Schüler. Damit taucht jetzt ein Kontinent auf, von dem man zuvor nur Inseln sah. Wer das liest, fragt sich anfangs, wann Alban Berg eigentlich zum Komponieren kam. Ob er wusste, was in ihm steckte. Nach Schönberg kam für ihn unter den Lebenden lange keiner. »Wir Sterblichen«, bekannte etwa der 26-Jährige dem Älteren, »können uns nur vor Ihrem Schicksal beugen.« Da erschrak selbst Schönberg: »Ich fürchte überschätzt zu sein! Tun Sie das nicht.« Es ihm recht zu machen, das war eine Sisyphosarbeit. Einmal fand er sogar die Adresse zu lang, unter der man Berg im Sommer erreichte, und mahnte per Postkarte: »Herzl. Gruß! Können Sie Ihre Adresse wirklich nicht kürzen? Schönberg«. Umso witziger, dass diese austriakisch umständliche Ferienadresse Karte für Karte in den Fußnoten vermerkt wird. Die verschaffen der Briefausgabe einen Horizont, der sich sonst kaum erschlösse. Etwa beim »Watschen-konzert« 1913, einem Uraufführungsabend mit Prügeleien, von dem Berg zunächst nur »das Glück über Ihre Aufführung meiner Lieder« erwähnenswert findet. Über Musik wird entweder punktgenau handwerklich gesprochen oder polemisch. Man lobt einander und spottet über fast alle anderen: Schreker (größenwahnsinnig), Krenek (nicht ernst zu nehmen), Honnegger (langweilig), Prokofjew (Salonmusik), Szymanowsky (überladen). Manche Sätze aus diesen Briefen könnte man sich auch in einem Dialogstück zwischen Thomas Bernhard und Ernst Jandl denken. »Ich hab Ihnen, mein lieber Herr Schönberg eigentlich nichts neues zu schreiben, aber mein Bedürfnis nach Mitteilung…« Da entspricht Berg genau der Rolle, die er in diesem neurotischen Paar spielt. Seine luxuriöse Umständlichkeit spiegelt seine Herkunft – Sohn eines wohlhabenden Exportkaufmanns – ebenso, wie aus Schönbergs grimmiger Knappheit der Sohn eines kleinen jüdischen Schusters spricht. Zugleich ist es, als wolle Berg in seiner Demut Abbitte leisten dafür, dass er gesellschaftlich von oben kommt, während Schönbergs Kampf um Anerkennung sich mit einer Selbstbezogenheit verbindet, die oft verletzend wirkt. Zwar hat er Berg das Handwerk beigebracht, aber für die eigene Kreativität muss der sich mitunter schier entschuldigen. »Es nicht als eine Eigenmächtigkeit betrachten!«, fleht der 28-Jährige, nachdem er bekannt hat, an einer Sinfonie zu schreiben statt an der von Schönberg empfohlenen Suite. Ein Jahr später widmet er dem Lehrer die »Orchesterstücke« op. 6 als etwas »Selbstständigeres« nach den Studienwerken und bekommt zur Antwort: »Ich hab zwar schon öfters hineingesehen, aber Sie werden ja selbst wissen, wie schwer es ist, sich aus so komplicierten Noten ein Bild zu machen…« Zudem fehle ihm in dieser Zeit die Ruhe. Die fehlt nun allerdings allen. Der Erste Weltkrieg hat begonnen. Patriot und Wahlberliner Schönberg verschickt Kaiser-Wilhelm-Postkarten, er empfiehlt Berg, Artillerist zu werden und Kriegsanleihen zu zeichnen.

Doch der, zuerst von den »ungeheuern Ereignissen« beeindruckt, findet es schon im Dezember 1914 »über alle Maßen entsetzlich«, von »Gelingen« zu sprechen, wenn es um das Töten geht. Im Ausbildungslager erleidet der 30-Jährige einen Zusammenbruch; im Innendienst ist er »abhängig von verhaßten Menschen, gebunden, kränklich, unfrei, resigniert, ja gedemütigt«. So schreibt er später an seine Frau Helene über die Parallelen zwischen sich und der Gestalt, die einer der bedeutendsten Opern des Jahrhunderts den Titel geben wird: Wozzeck. Dieses Werk ist ein Kriegskind; es macht Berg zum Erwachsenen. Der Weltkrieg beendet die neurotische Phase der Beziehung zu Schönberg.

Die beiden duzen sich jetzt, und Berg schreibt andere Briefe. Man atmet auf, dass er sich nicht als Autor eines Buchs über Schönberg rekrutieren lässt, man möchte ihn schütteln, wenn er vor Schönberg seinen Wozzeck neben dessen Monodram Erwartung kleinmacht (»einstampfen«), sich aber gegenüber Helene über Schönbergs notorisches »Miesmachen« ärgert. Freilich weiß er nicht, dass der schon nach ersten Eindrücken aus Wozzeck eine glühende Empfehlung an den Verleger Hertzka gesendet hat. Der Meister hat die Qualitäten sofort erkannt, lässt sich das aber auch nach der triumphalen Uraufführung 1925 kaum anmerken: »…kann natürlich nicht sagen, dass ich das Werk jetzt schon genau kenne.« Es gebe jedenfalls zu viele laute Stellen.

Ein bisschen lässt das an Leopold Mozart denken, dessen Stolz auf seinen Sohn und Schüler immer mit der Angst verbunden war, die Kontrolle über ihn zu verlieren. Vor dem Hintergrund spürt man subtile Distanz, wenn Berg über das opus 29 des Freundes anstelle der gewohnten Pauschaleuphorie nur schreibt: »Deiner Suite komm ich langsam schon näher.« Als er 1928 Jurymitglied der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik wird, möchte er dieses Stück zur Aufführung beim Festival vorschlagen – doch Schönberg nennt die Gesellschaft, für die Berg sich nicht zu fein ist, eine »Gaunerbande« und lehnt ab. Der Triumphzug des Wozzeck macht ihm zu schaffen: Berg hatte ihn überholt.

Zu Aufführungen seiner Oper reist der bis nach Leningrad, er kauft ein Ford-Sport-Cabriolet und schickt ein Foto davon an Schönberg, er lehnt eine Lehrstelle in Berlin ab – gegen Schönbergs dringende Empfehlung. Vielleicht hätte er ihr folgen sollen, denn für die Zeitläufte hat der Ältere ein sehr genaues Sensorium. »Ich weiss«, schreibt er im Herbst 1932, »natürlicherweise auch ohne die nationalen Winke, die man in den letzten Jahren empfangen hat, ganz genau, wohin ich gehöre… Ich nenne mich heute mit Stolz einen Juden.« Auch einen »Ortswechsel« erwägt er schon in diesem Brief, einem seiner wichtigsten, auf den Berg zwei Monate lang nicht antwortet. Die Aussicht, den »liebsten Freund« nicht mehr treffen zu können, muss ihn erschreckt haben. Kurz vor der Machtergreifung Hitlers (der in keinem der 810 Briefe, Postkarten, Telegramme vorkommt) besucht Berg seinen Freund in Berlin und schreibt dann: »Ich muß immer wieder einmal die Luft Deines Zimmers, das mir wie ein zum Platzen volles Innere eines Riesengehirnes vorkommt, athmen dürfen … ich brauche das zum Leben!« Am 17. Mai 1933 verlässt Schönberg dieses Zimmer für immer, um mit seiner Frau Gertrud und der einjährigen Tochter Nuria über Frankreich in die USA zu emigrieren. Von dort, aus Hollywood, kommt zu Bergs 50. Geburtstag am 9. Februar 1935 die größte Anerkennung, die Schönberg ihm je zollte: »Du, der als einziger unserer Sache allgemeine Anerkennung zu gewinnen imstande warst.« Doch Berg geht es schlecht. Seine Werke werden nicht mehr in Deutschland aufgeführt, Tantiemen bleiben aus, im August reicht das Geld noch für »2, 3 Monate«, und in dieser »Existenzfraglichkeit« nimmt er die Furunkulose nicht sonderlich ernst, an der er nach einem Insektenstich erkrankt. Den letzten Brief an den fernen Freund schreibt Helene für Alban, er liegt im Krankenhaus, am 24. Dezember 1935 stirbt er. Schönberg hat in Bergs letztem Sommer noch einen seiner tapsigen Späße gemacht und wie einst dessen Adresse kommentiert, die Wiener Wohnung seit Jahrzehnten, Trauttmannsdorffgasse 27. »Manchmal fühle ich mich versucht«, schrieb er ihm, »Ttrraauuttmmaannssddoorrffggaassee 2277 zu schreiben, weil ich nie weiss welche Buchstaben zu verdoppeln sind.« Die Bergsche Umständlichkeit, jetzt fehlte sie ihm wohl. Von Volker Hagedorn (DIE ZEIT, 24.04.2008 Nr. 18)


 Arnold Schönberg (1874 Wien - 1951 Los Angeles)
www.schoenberg.at

Bereits mit 9 Jahren brachte Schönberg sich autodidaktisch das Violinspiel bei. Aus familiären Zwängen begann er eine Berufslaufbahn bei einer Wiener Bank. Doch war er Zaungast bei Freiluftkonzerten im Augarten sowie im Wiener Prater; einen Teil seines Lohns investierte er in zahlreiche Opernbesuche, bei denen er vor allem die Bühnenwerke von Richard Wagner schätzte. Obwohl Schönberg einige Monate Kompositionsunterricht bei Zemlinsky nahm, hat er nach eigener Aussage das meiste durch das Studium der Werke großer Komponisten – vor allem Johannes Brahms, Richard Wagner, Gustav Mahler, Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart– gelernt. In seinem Buch 'Stil und Gedanke' setzte er sich mit deren Kompositionstechnik intensiv auseinander.Als Arnold Schönberg die Leitung einer Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste zu Berlin übernahm, war das die berühmteste und bestdotierte Kompositions-professur in der Weimarer Republik. Schönberg war, wie es sein Schüler Alfred Keller formuliert, "der Leiter der berühmtesten und exclusivsten Kompositionsmeisterklasse, die es es wohl je gegeben hatte". Die Berufung als Nachfolger Busonis war mit Sicherheit Schönbergs eklatantester gesellschaftlicher Erfolg. Als er die Meisterklasse in Berlin übernahm, befand er sich auf dem Gipfel seines europäischen Ruhms.“ (Ludwig Holtmeier). 1933 nach der nazistischen Machtübernahme emigrierte Schönberg in die Vereinigten Staaten, nahm 1941 die amerikanische Staatsbürgerschaft an und schrieb sich fortan 'Schoenberg'. 1951 starb er in Los Angeles.

Mit den 3 Klavierstücken, op. 11 beschritt Schönberg erstmals seinen folgerichtigen, schwer umkämpften Weg der “Emanzipation der Dissonanz“, der nach dem Ersten Weltkrieg in die klangentfesselnde, „negative“ Freiheit der sogenannten Tonalität und danach zur „positiven“ Ordnung der Zwölftontechnik führte. Musikgeschichtlich sind die 3 Klavierstücke insofern bedeutsam, als sie die ersten textlosen Kompositionen über-haupt darstellen, in denen der traditionelle Tonartbegriff und eine dominantisch-funktionale Harmonik durchgängig suspendiert sind, atonale Strukturen also konsequent realisiert werden.

Schon Busonis Doppel-, Tripel- und Quadrupelfugen seiner 'Fantasia contrappuntistica' schließen die hörend nachvollziehbare Tonalität aus, diese ließe sich lediglich noch in der Analyse der Notenschrift beweisen. Arnold Schönberg schafft dann den Schritt zur "Emanzipation der Dissonanz". Mit seiner 1911 erschienenen Harmonielehre, "dem Andenken Gustav Mahlers" gewidmet, befreit er seine Musik von den Regeln der herkömm-lichen Funktionsharmonik. Alle Intervalle treten nun als selbständige und gleichberechtigte Elemente der Melodiebildung auf. Dasselbe gilt für die Zusammen´-klänge. Schichtungen beliebiger Intervalle (beispielsweise Quartenakkorde, gleichzeitig erklingende Sekunden) werden gebildet, und die alte Hierarchie zwischen Konsonanz und Dissonanz ist aufgehoben. Das heißt: eine Dissonanz muss nicht mehr aufgelöst werden, sondern steht gleichrangig neben einer Konsonanz.Die 6 kleinen Klavierstücke op. 19 (1911) wurden ihrer auserordentlichen Kürze wegen berühmt. … Jede der aphoristischen Miniaturen verkörpert einen fest umrissenen, wenn auch eben gleichsam nur angedeuteten musikalischen Charakter. Er wird durch eine bestimmte Tempovorschrift angegeben. Und in ganz knappen motivischen Gebilden, oft nur einem einzigen, ausgedrückt. Schönberg hat funktionaltonale Zusammenhänge aufgegeben und zusätzlich die extensive Formung auf reprisenlose Artikulation nach Art eines Prosasatzes mitallerdings höchstmöglicher Verdichtung des Ausdrucks einschrumpfen lassen.

Arnold Schönberg: Suite op. 25 für Klavier (1921-23)

Präludium, Gavotte - Musette - Gavotte, Intermezzo, Menuett - Trio - Menuett, Gigue. ... Schönberg hat eine Kompositionstechnik entwickelt, die eine Reihe von zwölf verschiedenen Tönen sozusagen als Alternative zur früher üblichen Tonart benutzt. - Im übrigen: Dass damit jegliche tonale Zentren, also Reste eines Bezugs auf einen Grundton, beseitigt werden, ist ein Missverständnis, das vielleicht vor allem von Adorno aus musikphilosophischen (um nicht zu sagen ideologischen) Gründen propagiert worden ist. Ich denke auch, dass Schönberg und sein "Kreis" sich darin gefallen haben, avant-gardistisch sozusagen die althergebrachte hierarchische Ordnung im musikalischen System zu kippen. Schönberg war aber zu sehr Musiker, als dass er seine Musik wirklich irgendwelchen Theorien untergeordnet hätte. Er hatte vorher in "romantischen" Stil komponiert, und auch später hat er sich nicht gescheut, tonal orientiert zu komponieren. Hindemith hat übrigens schon damals - ohne allerdings Namen zu nennen - betont, dass die als "atonal" bezeichnete Musik keineswegs ohne tonale Zentren arbeite, und behauptet, dass gute Komponisten zumindest unbewusst gewisse Gesetze des Zusammenklangs beachteten.(http://www.bitel.net/ugws1704/suiteop25.html)Überblickt man Schönbergs Werkverzeichnis nach Opus-Zahlen, so scheinen die sieben Jahre nach 1912, dem Entstehungsjahr des epochalen "Pierrot lunaire" op. 21, eine Zeit geringer kompositorische Produktivität gewesen zu sein. Tatsächlich vollendete Schönberg damals lediglich die Vier Orchesterlieder op. 22. Der Erste Weltkrieg mag äußerer Anlass für sein Schweigen gewesen sein, bei genauerem Hinsehen befand sich der Komponist allerdings eher in einer Phase des intensiven Suchens: er arbeitete an einem gigantischen Symphonieprojekt, verfasste den Text zur Jakobsleiter und komponierte den ersten Teil dieses umfangreich geplanten Chorwerks. Nach den in einem wahren Schaffensrausch entstandenen Opera 11 bis 21, die sich der Loslösung von der Dur/Moll-Tonalität anschlossen, strebte Schönberg nach einer Konsolidierung der neu gewonnenen musikalischen Kräfte. Bereits zu Beginn der Jakobsleiter deutet sich der eingeschlagene Weg mit einem thematisch-akkordischen Zwölftonkomplex an, hier jedoch – wie Schönberg selbst meint – noch als Einzelfall, nicht im Sinne einer methodischen Idee. »Danach beschäftigte mich ununterbrochen die Idee, der Struktur meiner Musik bewusst einen einheitlichen musikalischen Gedanken zugrunde zu legen, der nicht nur alle anderen Gedanken hervorbringen sollte, sondern auch deren Begleitung und die Akkorde, die ›Harmonien‹ regulierte.« (Brief an Nicolas Slonimsky, 3. Juni 1937). Als Schönberg diesem Ziel mit dem Jahr 1920 näher kam, gewann sein Schaffen neuen Antrieb, etwa zeitgleich entstanden bis 1923 die Fünf Klavierstücke op. 23, die Serenade op. 24 und die Suite für Klavier op. 25.Wahrscheinlich handelte es sich um die erste Niederschrift des Präludium und Intermezzo aus der Suite op. 25 vom Sommer 1921, die Schönberg zu dem durch verschiedene Quellen überlieferten Diktum veranlasste, er habe »etwas gefunden, das der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre sichere« (so bekannt geworden durch Schönbergs Schüler Josef Rufer). Bei aller Ironie, die in dieser Bemerkung mitschwingen mag, sollte Schönberg in gewisser Weise Recht behalten: die »Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« prägte in unterschiedlichen Varianten die Musik des 20. Jahrhunderts. Wesentlicher als alle hegemonialen Implikationen dürfte Schönberg jedoch die Bedeutung der Methode für sein eigenes Schaffen gewesen sein. Die Werke der folgenden Jahre zeigen abgesehen von ihrer ganz unterschiedlichen Wirkung das Bestreben, traditionelle Formen für die gewandelte, posttonale Musiksprache wieder zu gewinnen. So rekurriert die Suite op. 25 unmittelbar auf das Schaffen Johann Sebastian Bachs, mittelbar aber auch auf Mozart, die Musik des 19. Jahrhunderts, wie auch Schönbergs eigenen Versuch von 1897 (»Gavotte und Musette für Streichorchester«), die historisch gewordenen Satztypen mit neuem Inhalt zu füllen. Die der Suite zugrunde liegende Zwölftonreihe, deren Krebs übrigens mit den in der Musikgeschichte häufig zitierten Tönen B-A-C-H beginnt, wird in dem Stück lediglich in 8 der 48 möglichen Derivate verarbeitet (jeweils Originalgestalt, Krebs, Umkehrung sowie Krebsumkehrung der Grundreihe und ihrer Tritonus-Transposition) – eine Beschränkung, die Schönberg durch eine flexible Handhabung der Technik, je nach Charakter der Einzelstücke, auszugleichen weiß.Das Präludium, dessen erste Niederschrift vom 24. bis 29. Juli 1921 datiert, gewinnt seinen vorwärts drängenden Gestus neben dem Eröffnungsthema vor allem durch die im 3. Takt einsetzenden Tonrepetitionen. Lediglich in der Mitte des kurzen Stückes ergibt sich durch ein wiederholtes Seufzermotiv eine kurze Atempause. Die sich anschließende, graziöse Gavotte mit Musette bildet dazu einen nicht weniger lebendigen Gegensatz: die tänzerischen Ursprünge der Satztypen lassen sich – erst recht im Vergleich mit den Suiten Bachs – deutlich heraushören, wenngleich die variantenreiche Rhythmik in Verbindung mit der synkopierten Begleitung eine klare Identifikation des Metrums beim ersten Hören erschwert. Das Intermezzo steht als langsamer Satz in der Mitte des Stücks, nach der Datierung auf den 25. Juli 1921 wurde es etwa zeitgleich zum Präludium begonnen. Während dort die Zwölfton-reihe als polyphones Geflecht eigenständiger Stimmzüge entwickelt wurde, steht hier eine Begleitformel im Diskant einer ruhigen Melodie in tiefer Lage gegenüber. Was bei Betrachtung der Zwölftonregeln „verboten“ erscheint – nämlich die Wiederholung eines Tons, bevor alle anderen erklungen sind – ist ein bei Schönberg häufig anzutreffender Vorgang, der sich aus der kompositorischen Situation ergibt. In seinen Zwölftonwerken gibt es kaum schematisch analysierbare Abläufe, stets jedoch bleibt die Logik einer auf der Reihe basierenden Struktur gewahrt. Hier wird aus den Tönen eines Reihenabschnitts ein sich wiederholendes Begleitmuster gewonnen, während die übrigen Töne das Thema formulieren. Auf dieser Basis entwickelt sich in ruhigem Tempo, wenngleich durch einige Ausbrüche unterbrochen, das weniger an die Epoche des Barock denn an die Klaviermusik des 19. Jahrhunderts gemahnende Stück. Es folgt ein Menuett mit Trio, wobei letzteres wohl zu den meistgedruckten Notenbeispielen aus Schönbergs Klavierwerk gehört: in harschem martellato werden sämtliche in der Suite auftretenden Reihenvarianten kanonisch miteinander verknüpft. Diese gewissermaßen schulbuchmäßig die Zwölftonmethode vorführende Episode dauert jedoch kaum mehr als eine Minute – umrahmt wird sie von dem zurückhaltenden, von einer gesanglichen Melodie geprägten Menuett, bei dem Schönberg den Reihenverlauf ausgesprochen frei gestaltet. Den Abschluss der Suite bildet eine mit kaum gebändigter rhythmischer Energie voranschreitende Gigue. Nach dem historischen Vorbild würde man hier einen 6/8-Takt erwarten, den Schönberg jedoch durch einen 2/2-Takt ersetzt, dessen metrische Struktur durch eine akribische Notation von Betonungszeichen sowie gelegentlich eingeschaltete 3/4-Takte variiert wird. Nicht auszuschließen, dass Schönberg Wolfgang Amadeus Mozarts Kleine Gigue in G-Dur KV 574 kannte, in der Abweichungen vom 6/8-Takt durch ähnliche Betonungsvarianten gestaltet sind. Zu diesem gleichermaßen von Innovationskraft wie tradierter Musikgeschichte geprägten Werk würde solch ein Vorbild zweifellos passen.  (Eike Feß, © Arnold Schönberg Centrum)


Schönberg der Lehrer
"Nur ihm [Schönberg], dem aus unmittelbarer Erfahrung Wissenden, konnte es gelingen, die falsche Voraussetzung, von der der musikalische Unterricht bisher ausging, fortzuschaffen und ihm die natürliche Basis zu geben. Er zeigt nämlich, dass die sogenannte Musiktheorie nie das sein kann, wofür sie sich ausgibt: ein System der Dinge, das sie erklärt und imstande wäre, ewige Gesetze und ästhetische Maßstäbe festzustellen, sondern im besten Fall ein System der Darstellung, das die künstlerischen Erscheinungen übersichtlich ordnet. Er hat den Mut, die Komposi-tionslehre als das zu bezeichnen und aufzufassen, was sie allein sein kann, als »Handwerkslehre«. Dieser Standpunkt wird in dem Buch nie verlassen, dem Schüler werden keine Regeln gegeben, sondern Anweisungen für den zweckentsprechen-den Gebrauch der Kunstmittel, die ihm in einer pädagogisch sorgfältig durchdachten Anordnung in die Hand gegeben werden. Der Schüler darf aber nicht etwa alles schreiben, im Gegenteil, er ist an Vorschriften gebunden, die noch viel strenger sind als die der landläufigen Theorielehrer; aber er weiß, dass er gewisse Dinge deshalb vermeiden muss, weil er für ihre Verwendung noch nicht reif ist und nicht etwa, weil sie schlecht oder unschön sind. Natürlich gibt Schönberg für die Vorschriften auch Erklärungen, sogar in viel größerem Ausmaß, als dies sonst geschieht; der wesentliche Unterschied ist aber der, dass er keine ästhetischen, sondern nur physikalische und psychologische Begründungen gibt, und dass er nicht Gesetze sucht, um unveränderliche künstlerische Normen zu finden, sondern, weil ihm das Suchen Selbstzweck ist. Gerade dadurch, dass er immer wieder Beziehungen findet, wird der Gegenstand in einer noch nicht dagewesenen Weise belebt. Das ganze harmonische Geschehen erscheint nicht mehr als das Ergebnis toter Formeln, vielmehr wird geradezu eine Psychologie der Harmonie geschaffen, und darum wird gerade der Begabte, der früher kaum begriff, was dieses System von Langeweile mit der Musik zu tun haben sollte, finden, was einzig für ihn notwendig ist.
Es gibt eben, wie Schönberg darlegt – und das ist wohl das wertvollste Ergebnis dieses Werks –, für den Künstler überhaupt keine ästhetischen Voraussetzungen : »Die Schönheit gibt es erst von dem Moment an, in dem die Unproduktiven sie zu vermissen beginnen. Früher existiert sie nicht, denn der Künstler hat sie nicht notwendig. Ihm genügt die Wahrhaftigkeit. Ihm genügt es, sich ausgedrückt zu haben. Das zu sagen, was gesagt werden musste; nach den Gesetzen seiner Natur.« So wird dieses Lehrbuch unbeabsichtigt zu einer glänzenden Verteidigungsschrift für die moderne Musik; unbeabsichtigt, denn Schönberg ist es nur darum zu tun, dem Schüler zu zeigen, dass die Kunst nicht nach Regeln zu fragen hat, dass diese bloß eine auf einen gewissen Stil beschränkte Geltung und für uns nur pädagogischen Wert haben. Der allerdings wird dafür in um so energischerer Weise immer wieder betont. Er sagt es selbst : »Nachdem ich dem Schüler gezeigt habe, inwiefern diese Regeln absolut nicht zwingend sind, setze ich dem Mutwillen, der sich in absoluter Nichtbeachtung austoben möchte, einen Riegel vor, indem ich nach den alten strengen Regeln sein Formgefühl so weit entwickle, dass dieses ihm zur rechten Zeit selbst sagen wird, wie weit er gehen darf, und wie das beschaffen sein muss, was sich über Regeln hinwegsetzen will.«
Der Weg, auf dem er das Formgefühl des Schülers entwickelt, unterscheidet sich wesentlich von dem, der heute [1911] üblich ist, dadurch, dass er zunächst die Aufgabe der Harmonielehre genau präzisiert. Er scheidet viel schärfer, als dies sonst geschieht, die Stoffgebiete von Harmonielehre und Kontrapunkt und legt das Hauptgewicht auf die Übung im Operieren mit den Harmonien, d. h. also mit den Fundamenten, auf den rein harmonischen Aufbau. Das ist wieder einmal selbst-verständlich, aber eben deswegen bei unseren heutigen Lehrern nicht üblich. Schönberg greift hier, wie auch sonst oft auf die Methodik älterer Theoretiker zurück, weil sie seinem Bedürfnis nach Sachlichkeit viel näher kommt. Er gibt also dem Schüler keine bezifferten Bässe, sondern lässt ihn vom ersten Tag an mit den ihm gegebenen einfachsten Mitteln Sätzchen schreiben, zu denen er die für den harmonischen Aufbau maßgebende Stimme, den Bass, selbst entwerfen muss, wodurch eben von vornherein die Entwicklung seines spezifisch harmonischen Formgefühls angebahnt wird. So wie er selbst nie von anderen Voraussetzungen ausgeht, als denen, die ihm in seiner Person gegeben sind, setzt Schönberg auch vom Schüler nichts voraus. Er gibt ihm die Mittel, die er gebrauchen lernt, in einer Reihenfolge in die Hand, die die Schwierigkeiten ganz allmählich anwachsen lässt, so dass sie dem Schüler kaum zum Bewusstsein kommen. Dabei wird nichts als selbstverständlich angesehen, weil nichts gering, nichts unbedeutend ist für den, dem das Material seiner Kunst heilig ist. Gerade durch die ungewöhnliche Ausführlichkeit, mit der alles hier behandelt wird, bekommen die Vorschriften, die er nie blind hinnehmen muss, ein viel größeres Gewicht für den Schüler. Er weiß, warum er sich aufs genaueste an all die alten Regeln halten muss, deren beschränkte Geltung ihm immer wieder vorgehalten wird. Er weiß, dass er zunächst nur das eine Ziel anstreben soll, einen möglichst einfachen Stil rein zum Ausdruck zu bringen. Sind dann die Mittel, mit denen der Schüler umgehen kann, etwas reicher, so werden die grundlegenden Fundamentschritte einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Schönberg nimmt an diesem Punkt, der ja das wahre Zentrum der Harmonielehre sein muss, eine von älteren Theoretikern angedeutete, in unserer Zeit längst vergessene Idee wieder auf und führt sie selbständig aus, indem er eine – natürlich nur für den Schüler verbindliche – wohl abwägende Wertung der Fundamentschritte gibt, wie sie aus dem harmonischen Aufbau der klassischen Werke resultiert. Die Einteilung der Fundamentschritte, die sich daraus ergibt, dient dem ganzen weiteren Unterricht als Grundlage. Es kann hier nur flüchtig berührt werden, dass sich in den Kapiteln über die Umkehrungen, die Entstehungen der Molltonart und die Dissonanzbehandlung ganz neue historische und psychologische Perspektiven eröffnen, und dass der Schüler all diese Mittel in ungewöhnlich gewissenhafter Weise handhaben lernt. Die außer-ordentliche Sachlichkeit und Strenge, mit der er den Schüler von Stufe zu Stufe führt, tritt ganz besonders in den Kapiteln hervor, die Kadenz und Modulation behandeln. Dem Schüler werden nicht die gewissen gangbaren Handgriffe gezeigt, mit denen er unbedenklich überallhin modulieren kann, sondern er wird dazu angehalten, eine Modulation planmäßig anzulegen. Unter Zugrundelegung der einfachsten tonalen Verwandtschaften wird daher eine sehr strenge Systematik entwickelt, durch die der Schüler Modulationen ausarbeiten lernt, in denen jeder Akkord seinen Sinn hat, die einen wohldurch-dachten Aufbau zeigen. Schrittweise werden immer weitere Beziehungen erschlos-sen, ohne dass dabei die zielbewusste Anlage außer acht gelassen wird. In die Systematik fügen sich als bereicherndes Moment die von Schönberg als Neben-dominanten bezeichneten Akkorde ein, dann die auf die Akzidentien der Kirchen-tonarten zurückgeführten alterierten und schließlich die »vagierenden« Akkorde. Der verminderte Septakkord, der sonst dem Schüler dazu in die Hand gegeben wird, damit er sich ohne viel Kopfzerbrechen von Tonart zu Tonart schlängeln kann, bekommt hier durch die Deutung als Nonenakkord mit weggelassenem Grundton seine deutliche Stellung im tonalen System und wird zunächst genau so behandelt, wie die im engeren Sinn tonalen Akkorde. Die verwandtschaftlichen Beziehungen, die die Modulation erschlossen hat, werden dann zur Bereicherung der Kadenz benutzt. Diese rückt nun in den Vordergrund, und es werden systematisch immer mehr Möglichkeiten zu ihrer Erweiterung gezeigt, so dass schließlich ein plastisches Bild entsteht von dem unbegrenzten Beziehungsreichtum im Rahmen der Tonalität. Allmählich werden alle bekannten harmonischen Mittel in das System einbezogen, auch die sonst so stiefmütterlich behandelten Nonenakkorde und schließlich die Ganztonakkorde und die Quartenakkorde, die hier zum ersten Mal abgeleitet und systematisch behandelt werden.
Das sind nur einige der auffallendsten Merkmale des Buches. Alles Besondere anzuführen ist unmöglich, weil alles besonders ist. Da gäbe es keine Seite, die man überschlagen könnte, und man möchte das Buch schließlich am liebsten von A bis Z abschreiben. Denn dieses Lehrbuch hat den Reichtum und die Ausdruckskraft eines Kunstwerks, und wer könnte von einem solchen dem, der es nicht kennt, auch nur einen Begriff geben? Man möchte nur unsere Zeit, die die großen Ereignisse gerne verschläft, auf dieses aufmerksam machen. Vor allem all die jungen, die wahrhaft jungen Musiker, denen dieses Buch ein künstlerisches Evangelium sein wird. Dann jene Nichtfachleute, die schon Vertrauen zu dem Namen Schönberg haben, aber vor dem Titel Harmonielehre zurückschrecken, weil sie nicht ahnen, dass dieses Werk ein Bekenntnis ist, das zu allen spricht. Schließlich aber auch jene, die vielleicht eine Harmonielehre suchen, aber vor dem Namen Schönberg zurückschrecken, weil sie jenen Verderbern der öffentlichen Meinung glauben, die aus der Erscheinung, dass einige Schüler Schönbergs Dissonanzen schreiben, den falschen Schluss ziehen, ihr Lehrer verlange das von ihnen. Wo es doch auf der Hand liegt, dass die Ersten, die gerade bei Schönberg lernen wollten, nicht zufällig seine Schüler wurden, sondern schon, ehe sie bei ihm lernten, in sich die Neigung zu jenen verpönten Klängen fühlten. Es gibt eben Menschen, die sich leichter zu einer Verleumdung entschließen, als zu einer so einfachen Überlegung. Aber dieses Buch wird es allen denen, die es nicht begreifen wollen, schwarz auf weiß bezeugen, dass Schönberg der beste Lehrer ist, weil er der strengste ist ; nur ist zwischen seiner Strenge und der der akkredi-tierten Theoretiker ein wesentlicher Unterschied: diese fürchten, »was nicht nach ihrer Regeln Lauf«, er scheut jede künstlerische Unehrlichkeit und will den Schüler dahin bringen, dass alles, was er tut, sich aus innerer Notwendigkeit ergibt."
(Arnold Schönberg. Harmonielehre. Mit Beiträgen von Alban Berg et al.
[hier: Heinrich Jalowetz] München 1912, p. 49–58)
"Was das Musikstudium bei Schönberg so faszinierend macht, ist diese ungeheure Ansammlung von Energie, die in jedem Worte liegt, das er spricht. Nie wird etwas Schablone, formelhaft oder starr. Es ist bezeichnend, dass Schönberg immer auf und ab geht, wenn er etwas entwickelt; weil alles in ihm Aufruhr und Bewegung ist. Vortragen heißt bei ihm immer entwickeln, ableiten, flüssig machen. Schönberg sagt nicht das, was er weiß, sondern was er denkt, was er jedes Mal neu denkt. Das bloße Wissen ist etwas Gestorbenes. Es ist einmal eingenommen worden, hat sich im Gedächtnis festgesetzt und verwest dort langsam. Vom Wissen leben die Denk-schwachen. Ihre Erneuerungsprozesse haben aufgehört; sie haben sich eingekapselt wie eine Schnecke, die ihr Ende fühlt. Nur mit dem Unterschied, dass die Schnecke ein so feines Tier ist und ihr Ende fühlt; jene Menschen aber, deren Entwicklung hauptsächlich körperlich vor sich geht, gedankenlos weiterleben und sich von Kenntnissen nähren bis ins höchste Alter. Haben sie nun unglücklicherweise mit der künftigen Generation zu tun, etwa als Lehrer, dann kommt jene Sorte von Menschen zustande, die immer wissen, wo sich etwas »befindet«, wo »derselbe« ist und die »diejenigen kennen, welche«. Über die sich Wustmann schon vor zwanzig Jahren lustig gemacht hat; jene Dutzendmenschen, die überall eine »Meinung« haben, weil sie überall etwas gelernt haben. Das Lernen ist es ja. Auf das Gelernte sind die meisten stolz, nämlich auf das, was ein anderer in sie hineingebohrt, -gepresst und -gestampft hat. Was ja doch eigentlich gar kein Lernen ist, sondern ein bloßes Addieren. Tatsachen werden neben Tatsachen gestellt; ihre Tätigkeiten und Eigen-schaften kommen in andere Fächer, wie es eine richtige Sprachlehre vorschreibt. O, so ein Hirn ist groß. Was aber Lernen eigentlich bedeutete, wäre nicht das Nebeneinanderstellen, sondern das Ineinanderfließen der Dinge, die Verwandlungs-fähigkeit und die Fähigkeit, neue Dinge zu gebären. Das Lernen ist dann keine Addition, sondern eine Multiplikation.
Wenn man nun bei Schönberg multiplizieren lernt, so ist das viel mehr, als man sonst von einem Musikstudium erwartet. Denn hier zeigt sich unentrinnbar, was einer künstlerisch taugt. Es ist jede Möglichkeit ausgeschlossen, eine Musik vorzutäuschen, die nicht multiplikativ entstanden, also in den Tiefen ineinandergeflossen und Kristall geworden ist. Im Anfange schlagen die Studierenden gerne aus; sie machen alles schwieriger, als es das Material verlangte; sie verbarrikadieren eine einfache Melodie mit künstlichen Schranken, damit sie wenigstens interessant aussieht. Sie tun dies zwar nicht bewusst und absichtlich, sondern einfach deshalb, weil sie sich über vieles noch nicht klar sind. Schönberg hört es aber, wenn eine Melodie absichtlich ausweicht. Da ist ihm die ehrliche Banalität lieber.
Ich habe einmal in eine Stunde ein Lied gebracht, das ich hauptsächlich deshalb so liebte, weil es so schwer war. Als es Schönberg durchgelesen hatte, sagte er: »Haben Sie sich das wirklich so kompliziert gedacht?« Eine solche Frage bejaht ein Schüler immer. Denn sie schmeichelt. Aber Schönberg gab nicht nach:
»Ich meine: trug Ihr erster Einfall unzweideutig jene Komplizität der Begleitungs-form in sich?«
Eine solche Frage bejaht ein Schüler nicht immer. Denn er fühlt, wie sie ihm an den Leib geht. Ich suchte mich auf den ersten Einfall zu besinnen. Aber Schönberg, durch meine Unsicherheit gestärkt, sprach weiter:
»Haben Sie nicht diese Figur nachträglich darübergelegt, um ein harmonisches Skelett zu bekleiden? Etwa so, wie man Fassaden an Häuser klebt?« ["Ornament und Verbrechen" hieß ein Vortrag, den Adolf Loos 1910 zuerst in Berlin und dann erst in Wien hielt, H.T.Ambros] Jetzt hatte er’s auch. Es stellte sich heraus, dass der Einfall bloß harmonisch und nicht zwingend bewegungszeugend gewesen war.
»Sehen Sie, dann begleiten Sie das Lied einfach harmonisch. Es wird primitiv aus-sehen, aber es wird echter sein als so. Denn was Sie hier haben, ist Schmuck. Das sind dreistimmige Inventionen, geschmückt mit einer Singstimme. Die Musik soll aber nicht schmücken, sie soll bloß wahr sein. Warten Sie ruhig auf einen Einfall, der Ihnen sofort rhythmisch, in der Horizontale ins Bewusstsein kommt. Sie werden staunen, was für eine Triebkraft ein solcher Einfall hat. Sehen Sie sich Schuberts Lied ›Auf dem Flusse‹ an, wie da eine Bewegung die andere zeugt. Und dann: »Schwer darf Ihnen gar nichts vorkommen. Was Sie komponieren, muss Ihnen so selbstverständlich sein wie Ihre Hände und Ihre Kleider. Früher dürfen Sie es nicht aufschreiben. Je einfacher Ihnen Ihre Sachen scheinen, desto besser werden sie sein. Bringen Sie mir einmal jene Arbeiten, die Sie nicht herzeigen wollen, weil sie Ihnen zu einfach und kunstlos scheinen. Ich werde Ihnen beweisen, dass sie wahrer sind als diese. Denn nur von solchen Dingen kann ich ausgehen, die Ihnen organisch, also selbstverständlich sind. Wenn Sie etwas, was Sie geschrieben haben, sehr kompliziert finden, dann zweifeln Sie am besten sofort an seiner Echtheit.«
Einige solcher Entlarvungen und der Schüler ist fanatisch streng gegen seine Einfälle. Er hört seine Kompositionen genau aus, worauf es ja eigentlich ankommt. Und manchmal, das ist das wunderbarste in diesen Stunden, fühlt Schönberg bei irgend-einer Stelle der Kompositionsarbeit plötzlich, dass ihn etwas wegdrängt vom Satze, dass der Weg des Klanges anders weitergeht, um weiter unten wieder einzu-münden. Was ist das? Eine Weile horcht er: »Haben Sie diese Stelle nicht so gehört?« und spielt anders weiter, natürlich das, was der Schüler gesucht, aber nicht gefunden hatte; jene Takte, in denen die logische Folge des Einfalles verloren gegangen war und nicht mehr aufgefunden werden konnte. »Jetzt denken wir aber nach, warum es so weitergehen muss!«
Nun beginnt die Forscherarbeit des Theoretikers. Hier wird ein b entdeckt, das den Klang in eine andere Richtung drängt. Dieses b muss Folgen haben, denen nicht nachgegeben wurde. Jetzt gilt es auszuhorchen, wohin sich der Satz gerne wenden möchte, wie lange er das Bedürfnis hat, zu fallen, und wo der Punkt ist, in dem er sich aufrafft, um zum Schlusse emporzusteigen. Da spricht Schönberg von einem Triebleben der Klänge. Oder es ist eine kleine Taktverschiebung. Ergab sie sich notwendig, dann wird sie öfter als einmal vorkommen müssen. Denn sie ist dann organisch und in jedem Ton muss ihre Möglichkeit verborgen liegen. In allem Folgenden müssen die Ereignisse von vorher nachzittern.
Das wird seinen Schülern bewusst. Dieses Wissen ist aber eines, das nur scheinbar von einem andern gekommen ist. Das Wissen stak embryonisch in ihnen und es bedurfte nur des einen, der es wachrief. Schönbergs Art zu lehren ist darauf gebaut: Er lässt den Schüler finden. Und erst was einer selbst gefunden hat, gehört ganz ihm. Was er der Musik abgerungen hat in ernsthafter Arbeit, das geht nicht verloren, auch wenn die Komposition misslungen ist. Die Kraft ist gewachsen, und wenn sie auch erst im zehnten oder im zwanzigsten Sturme siegen wird.
Kompositionsschüler wachsen am besten an ihren Arbeiten. Dirigententalente, deren Kraft im Reproduktiven liegen wird, erkennt Schönberg bald an der Art, wie sie etwas anfassen. Er behandelt sie dann anders. Da gibt er die Entwicklung der Musik durch die Werke der Großen selbst: die Analysen. Das ist der zweite Teil seines Lehrens. Jene, die selbst produzieren, führt er nur gelegentlich zur Analyse, um ihnen zu zeigen, wie z. B. Brahms ein harmonisches Problem behandelt oder wie es Beethoven im Quartett löst. Nie sagt Schönberg zweimal dasselbe, aber er kommt zehnmal von verschiedenen Seiten auf denselben Punkt. Die Erklärungsmöglich-keiten sind unendlich. Einmal sagte ihm jemand, dass er heute jene Beethoven-Sonate ganz anders erkläre als das letzte Mal, worauf Schönberg antwortete: »Ich bin auch heute ein anderer Mensch und habe nicht die Verpflichtung, konsequent zu sein, sondern nur die, lebendig zu bleiben.«
Eine Erklärung, wie: Hier Hauptsatz, hier Seitensatz und darin diese Modulationen, ist ihm zu langweilig. Er sucht das Triebhafte im Kunstwerke; er zeigt, wie alles von einem Kern ausgeht und nach allen Richtungen ausstrahlt, wie die feinsten Verästelungen des thematischen Gewebes noch Beziehungen haben zum Kern, von dem sie gezeugt sind. Oder er zeigt, wie an einem scheinbaren Endpunkt ein winziges Gebilde hervorwächst, fast unsichtbar noch und ohne Bedeutung, wie es aber Freunde wirbt und stark wird und mächtig und endlich den Kampf aufnimmt mit dem Alten. Nie habe ich noch solche Ehrfurcht vor Beethoven gehabt, als nach jener Stunde, in der Schönberg in dieser Art eine Sonate analysiert hatte. Diese Analysen sind keine Konstatierungen der Verhältnisse; sie sind ein Durchleuchten von innen heraus, ein vollständiges Nachschaffen des Kunstwerkes.
Es ist mir oft gesagt worden, es sei die fabelhafte Kenntnis der Musikliteratur, die Schönberg befähige, so viel von diesen Dingen zu wissen. Ich kenne aber manche, deren Literaturkenntnisse vielleicht nicht geringer sind, und doch verstehen sie es nicht, mit ihren Kenntnissen jemand zu erwärmen. Es kann also nicht in den Kenntnissen liegen, sondern im Menschen, in der Art die Ereignisse anzuschauen, zu vergleichen und zu gruppieren, in der Fähigkeit, in verschiedenen Dingen gleich das ähnliche zu entdecken und in ähnlichen Dingen gleich das verschiedene. Nur so wird das Wissen flüssig und fruchtbar, und wenn es im Anfange schien, als wäre es verachtenswert, etwas zu wissen, so wird es jetzt klar, dass damit nur der Ver-wesungsgeruch gemeint war, der von dem toten Wissen aufstieg. Im produktiven Menschen wird alles fruchtbar, auch die Historie; denn er wird sie in die Gegenwart einbeziehen.
Merkwürdig ist, dass Schönbergs Art, zu lehren, sich mit dem deckt, was Scharrel-mann und andere Schulmänner für die Schule überhaupt fordern: Den Unterricht loszulösen von den starren Formeln und abzuleiten aus dem Menschen, den man vor sich hat; weil er nur so organisch ist und fruchtbar werden kann. Die Kenntnisse sind ja eine schöne Sache, aber man sollte ebenso wenig darauf stolz sein wie auf ein hübsches Gesicht, für das man nichts kann. Denn man hat sie bloß erlernt, sie gehören also höchstens unserem Gehirn und werden wieder verloren gehen. Erkenntnisse dagegen, die aus uns selbst hervor-gegangen sind, sitzen auch im Blut und in den Nerven und sind durchaus unser Besitztum. Und gingen sie während der weiteren Entwicklung scheinbar verloren, so haben sie doch eine Stufe gebildet, über die wir hinwegschreiten mussten.
Die Stufe war aber notwendig. Das Ziel eines Unterrichtes können nur Erkenntnisse sein, zu denen der Schüler irgendwie kommen muss. Jedem seinen Weg dahin zu weisen und jene Hemmnisse, die nur aufhalten und nicht fördern würden, wegzu-räumen, das nur kann die Aufgabe des Lehrers sein."
(Karl Linke (1884-1938): Arnold Schönberg als Lehrer
(https://schoenberg.at/index.php/de/der-lehrer-beitraege-seiner-schueler)

Der Text stammt aus einem Aufsatz von Karl Linke über Schönberg als Lehrer. erschienen in: üben & musizieren 1/2016, Seite 37
Karl Linke (1884–1938), ein innovativer Pädagoge, arbeitete nach einem Lehramts-studium zunächst als Volksschullehrer in Wien, später in der Reformabteilung des österreichischen Unterrichtsministeriums sowie als Dozent für Lehrerbildung. Mit vielen reformpädagogischen Impulsen hatte er beträchtlichen Einfluss auf das österreichische Schulwesen. In den Jahren 1909 bis 1912 studierte er privat Musiktheorie und Komposition bei Arnold Schönberg.
Wie sich in dem Schülerkreis Schönbergs Norbert von Hannenheim ausnimmt, der dem Kreis seit 1929 in Berlin angehörte, ist auf der Homepage www.musica-suprimata.eu nachzulesen. Hier sollen nur dem unkomplizierten Nachvollzug halber noch ein paar Fakten rekapituliert werden:

www.anton-webern.ch
Anton (von) Webern
(1883 Wien - 1945 Mittersill, Salzburg)

“Wenn er sang und schrie, seine Arme bewegte und mit den Füßen stampfte beim Versuch, das auszudrücken, was er die Bedeutung der Musik nannte, war ich erstaunt zu sehen, daß er diese wenigen, für sich allein stehenden Noten behandelte, als ob es Tonkaskaden wären. Er bezog sich ständig auf die Melodie, welche, wie er sagte, reden müsse wie ein gesprochener Satz. Diese Melodie lag manchmal in den Spitzentönen der rechten Hand und dann einige Takte lang aufgeteilt zwischen linker und rechter. Sie wurde geformt durch einen riesigen Aufwand von ständigem Rubato und einer unmöglich vorherzusehenden Verteilung von Akzenten. Aber es gab auch alle paar Takte entschiedene Tempo-wechsel, um den Anfang eines neuen gesprochenen Satzes zu kennzeichnen…”. Der Wiener Pianist Peter Stadlen hat dieses höchst eindringliche Bild des besessenen Webern bei der Einstudierung seiner Variationen Opus 27 überliefert. Stadlen studierte das Stück 1937 für die Uraufführung über mehrere Wochen mit dem Komponisten ein.

"Der Musikwissenschaftler Frank Schneider bewertete das Werk in Weberns Schaffen folgendermaßen: “Weder war Webern Pianist, noch widmete er als Tonsetzer dem Klavier besondere Aufmerksamkeit. Sein marksteinsetzendes Werk für dieses Instrument, die Variationen op. 27, entstand erst 9 Jahre vor dem Tode des Komponisten… Die immer wieder hervorgehobene Tendenz der Webernschen Musik zur Aussparung, zur Schrumpfung und zum Verstummen wendet sich gewiß gegen ein Weltgeschrei, vor dessen brutaler Gewalt und mörderischen Konsequenzen er gerade in jenen Jahren in Österreich allen Grund hatte, sich - wenn auch ohnmächtig - abzuschließen. Die Beschäftigung mit Musik, wenige Freunde und Schüler blieben als Ermutigung für Webern, der zunehmend vereinsamte, künstlerisch totgeschwiegen wurde und oft am Rande der materiellen Not lebte. "

In seinem 1963 veröffentlichten Buch Penser la Musique Aujourd’hui fasste Pierre Boulez die einzigartige Bedeutung von Anton Weberns Musik für die Nachkriegsgeneration in wenigen kurzen und treffenden Sätzen zusammen. Boulez nannte ihn den „wichtigsten Orientierungspunkt“, der jungen Komponisten geholfen hat, ihre eigene Persönlichkeit zu finden.

Weberns Schaffen, mehr noch als Schönbergs oder Bergs, geschweige denn Strawinskys und Bartóks, erwies sich als einziger Bestandteil der Tradition, woran sich Komponisten nach 1945 anknüpfen konnten. Aber selbst Strawinsky, der sich ja einer völlig anderen Ästhetik verschrieb und mit Lob äußerst vorsichtig umging, zollte Webern höchsten Respekt:Wir müssen nicht nur diesen großen Komponisten verehren, sondern auch einen wirklichen Helden. Zum völligen Misserfolg in seiner tauben Welt der Unwissenheit und Gleichgültigkeit verurteilt, blieb er unerschütterlich dabei, seine Diamanten zu schleifen, seine blitzenden Diamanten, von deren Minen er eine so vollkommene Kenntnis hatte.“Weberns „Diamanten“, seine kurzen, auf das Wesentliche konzentrierte Stücke, schienen einen totalen Neubeginn zu signalisieren. Anders als Schönberg, dem Boulez vorwarf, in seinem Denken weiterhin der Tradition verpflichtet zu sein, sei es Webern gelungen, seine Bindungen zur Tradition radikal zu trennen. Weberns Schüler Peter Stadlen wies jedoch immer wieder darauf hin, dass dieser seine Musik sehr wohl gefühlsbetont, „romantisch“ auffasste. Weberns Musik hat also nichts mit Objektivität oder Sachlichkeit zu tun, er wollte sehr wohl tiefe Empfindungen ausdrücken. Für György Kurtág gilt sein Schaffen bis heute als die purste Musik. Da diese jedoch hinter dem „Eisernen Vorhang“ aus politisch-ideologischen Gründen unerreichbar war, nutzte der ungarische Komponist sein in Paris verbrachtes Jahr 1957/1958 dazu, etwa die Hälfte des Oeuvres von Webern zu kopieren. Somit kam er in den Besitz der Partituren, was ihn dazu befähigte, wichtige Schlüsse für seine eigene Arbeit zu ziehen.Es ist ein tragisches Ereignis in der Musikgeschichte, dass Anton Webern wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs getötet wurde (ein amerikanischer Soldat erschoss ihn aus Versehen), kurz bevor er zur Kultfigur wurde. Er hätte endlich das Gefühl gehabt, verstanden und geehrt zu sein, ein Feedback, das ihm zu Lebzeiten verwehrt war – dazu war seine Musik viel zu kompromisslos, zu karg, zu grundsätzlich neu in der Reduktion der Mittel und der Spieldauer.Mit dem Anschluss 1938 wurden Aufführungen von Weberns Musik untersagt. Ohne die Hilfe Alfred Schlees, der nach der „Arisierung“ der Universal Edition weiterhin im Verlag arbeitete, und der dem Komponisten Arbeit (Korrekturlesen und ähnliches) verschaffte, hätte Webern überhaupt kein Einkommen gehabt, um seine Familie über Wasser zu halten. Die ganze Geschichte der Zweiten Wiener Schule hat eine tragische Seite. Der Gründervater, Arnold Schönberg, musste emigrieren und in den Vereinigten Staaten eine neue Existenz aufbauen. Er erlebte den Tod seiner beiden Freund gewordenen Schüler, Alban Berg 1935 und Anton Webern zehn Jahre später. Schwere Schläge für ihn wie auch für die Geschichte der Musik.

Als sich Webern im Jahre 1904 entschloss, bei Schönberg zu studieren, hatte er schon viele Stücke geschrieben, darunter das soeben fertig gestellte Orchesterwerk Im Sommerwind. Dieser Komposition begegnet man bis heute immer wieder in Konzerten. Trotz quälender Selbstzweifel und den Erwartungen seines Vaters, er solle Agrarwirtschaft studieren, um das familieneigene Gut zu übernehmen, schrieb Webern Musik.

Somit studierte er Musikwissenschaft an der Wiener Universität und schrieb seine Doktorarbeit über Heinrich Isaac. Er interessierte sich auch lebhaft für Kunstgeschichte, die er ebenfalls studierte, trat der Albrecht Dürer Gesellschaft bei und besuchte Galerien in München und Salzburg. (Gerade in jenen frühen Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden wichtige neue Schulen in der Malerei, wie Der blaue Reiter in München oder Die Brücke in Dresden.)

Schwer zu glauben, aber offensichtlich übertrafen Weberns Kenntnisse der Musikgeschichte jene von Arnold Schönberg. Schönberg nahm von seinen Vorgängern bloß, was für ihn  – und für seine Arbeit – nützlich war, hatte aber im Gegensatz zu Webern keine konsequenten Studien betrieben. Dessen Wunsch, jedes Werk, das sie gemeinsam analysierten, in einen historischen Kontext zu stellen, soll Schönberg bewogen haben, sich der gründlichen Studie der Musikgeschichte zu widmen. Emil Hertzka, der damalige Direktor der Universal Edition und ein unvergleichlicher Entdecker und Mentor neuer Talente, trat bereits 1914 an Webern mit dem Angebot heran, seine Werke in Verlag zu nehmen. Das war nur fünf Jahre nachdem er Verträge mit Mahler und Schönberg abgeschlossen hatte und Jahre vor der Kontaktaufnahme zu Bartók oder Janáček, von Berg ganz zu schweigen. Der Erste Weltkrieg kam jedoch dazwischen – Webern meldete sich als Freiwilliger – und erst 1920 kam es endlich zu einer Vereinbarung zwischen den beiden. (Im selben Jahr kam Kodály zur UE, Berg folgte drei Jahre später nach).Um wieder einmal einen Sprung vorwärts zu machen: genauso wie es Hertzka zu verdanken ist, dass Webern seine Werke bei einem Verlag unterbringen konnte (früher hat er manche seiner Partituren im Selbstverlag veröffentlicht), so ist es einer anderen leitenden Figur der UE, Alfred Schlee, zu verdanken, dass die Druckplatten der Zweiten Wiener Schule die Jahre der Naziherrschaft überlebten: er vergrub sie in seinem Garten. Nach den Kriegsjahren standen sie also gleich zur Verfügung, um neu hergestellt und dem internationalen Musikleben erreichbar gemacht zu werden.Eine engere Symbiose zwischen drei Komponisten und einem Verlag, als die, die sich über die Jahre zwischen Webern, seinem Lehrer und seinem Kommilitonen auf der einen Seite und der Universal Edition auf der anderen entwickelte, ist schwer vorstellbar. Ihre ist eine einmalige Erfolgsgeschichte: drei völlig unterschiedliche schöpferische Persönlichkeiten, die es schwer hatten, Akzeptanz für ihre Musik zu erkämpfen und es teils zu Lebzeiten, teils posthum doch geschafft haben, dank der standhaften Hilfe ihres Verlags. Anton Webern: Variationen für Klavier, op. 27 (1935-36) in drei Sätzen1. Sehr mäßig - 2. Sehr schnell  - 3. Ruhig Fließend Webern widmete dieses Klavierwerk aus dem Jahre 1936 dem Pianisten Eduard Steuermann  (1892 Sambor, Galizien, Österreich-Ungarn  - 1964 New York), der seit den Zehnerjahren fast alle Klavierwerke der Wiener Schule uraufgeführt hatte und neben dem Geiger Rudolf Kolisch (1896 Klamm, NÖ - 1978 Watertown, Mass. USA; Kolisch war Primarius des Kolisch-Quartetts, entstanden 1921 als Wiener Streichquartett. Es entstand im Kontext von Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. Kolisch verfasste eine Schrift zu Tempo und Charakter in Beethovens Musik) maßgeblich an der Entwicklung eines neuen, den komplexen Kompositionen angemessenen Interpretationsstils beteiligt war. Das Werk ist, für Variationen durchaus unüblich, dreisätzig angelegt, „eine Art Suite“ (Webern). Die beiden ersten Sätze stellen gewisse Spiegelformationen der Reihe dar, die erst im dritten Satz, den eigentlichen Variationen, als Thema greifbar wird. Der erste Teil, ein langsames, deutlich dreiteiliges Stück, das man immer wieder nicht ganz zu Unrecht mit den späten Brahms-Intermezzi in Zusammen-hang gebracht hat, besteht ausschließlich aus sukzessiven Spiegelungsphrasen um eine vertikale Achse; jeder Teilabschnitt ist von der Mitte an rückläufig angelegt. Für den Hörer wirken sie, etwa in den ersten sieben Takten, wie Vordersatz-Nachsatz-Relationen. Der zweite, sehr rasche Satz, den Webern mit Bachs Badinerie aus der h-moll-Ouverture verglich, bringt immer zwei Reihenabläufe, die Grundgestalt und ihre Umkehrung, gleichzeitig, spiegelt also simultan um eine horizontale Achse. Gerade diese Klavier-variationen mit ihrem kargen, von Pausen durchbrochenen Klaviersatz und ihren spärlichen Spielanweisungen wurden häufig von Musikhistorikern wie Interpreten als Vorläufer der punktuellen Musik der fünfziger Jahre missverstanden. Zu denken geben jedoch die Erinnerungen Peter Stadlens (1910 Wien - 1996 London, Komponist, Pianist und Musikwissenschaftler, der sich insbesondere mit der authentischen Interpretation der Werke von Beethoven befasste), der 1937 für die Wiener Uraufführung das Werk mit dem Komponisten selbst einstudiert hatte: „Wenn er [Webern] sang und schrie, seine Arme bewegte und mit den Füßen stampfte beim Versuch das ausdrücken, was er die Bedeutung der Musik nannte, war ich erstaunt zu sehen, daß er die wenigen, für sich stehenden Noten behandelte, als ob es Tonkaskaden wären.“ Für die ersten zwölf Takte des dritten Satzes (36 Töne) gab Webern die folgenden Anweisungen: „elegisch, sich überstürzend, enthusiastisch, pathetisch, exaltiert, nachdenklich, weitausholend, exaltiert, quasi vibrato, verlöschend“.Manfred Angerer, Universal Edition

“Wenn er sang und schrie, seine Arme bewegte und mit den Füßen stampfte beim Versuch, das auszudrücken, was er die Bedeutung der Musik nannte, war ich erstaunt zu sehen, dass er diese wenigen, für sich allein stehenden Noten behandelte, als ob es Tonkaskaden wären. Er bezog sich ständig auf die Melodie, welche, wie er sagte, reden müsse wie ein gesprochener Satz. Diese Melodie lag manchmal in den Spitzentönen der rechten Hand und dann einige Takte lang aufgeteilt zwischen linker und rechter. Sie wurde geformt durch einen riesigen Aufwand von ständigem Rubato und einer unmöglich vorherzusehenden Verteilung von Akzenten. Aber es gab auch alle paar Takte entschiedene Tempowechsel, um den Anfang eines neuen gesprochenen Satzes zu kennzeichnen…”. Der Wiener Pianist Peter Stadlen

Stadlen, der in Wien geboren wurde, brachte dort 1937 Anton Weberns Variationen für Klavier op. 27 zur Uraufführung. Außerdem war er der Solist der europäischen Erstaufführung von Arnold Schönbergs Klavierkonzert op. 42. Nach dem „Anschluss“ musste er Österreich verlassen und emigrierte nach England. 1959 wurde er Musikkritiker beim Daily Telegraph, für den er 26 Jahre tätig war.Stadlen befasste sich viele Jahre mit Beethovens Metronomisierungen.hat dieses höchst eindringliche Bild des besessenen Webern bei der Einstudierung seiner Variationen Opus 27 überliefert. Stadlen studierte das Stück 1937 für die Uraufführung über mehrere Wochen mit dem Komponisten ein - ein strapaziöses Ringen um die Ausdruckspalette von wenigen Minuten Musik: “Gelegentlich versuchte er, die allgemeine Stimmung eines Stückes anzuzeigen, indem er das quasi improvisando des ersten Satzes mit einem Intermezzo von Brahms verglich, oder den Scherzocharakter des zweiten mit der Badinerie von Bachs h-moll-Suite, an die er, wie er sagte, bei der Komposition seines Stückes gedacht hatte. Aber die Art, in der dieses ausgeführt werden musste, war in Weberns Vorstellung genau festgelegt und nie auch nur im geringsten der Stimmung des Augenblicks überlassen . . . Nicht ein einziges Mal berührte Webern den Reihenaspekt seiner Klaviervariationen. Selbst als ich ihn fragte, lehnte er es ab, mich darin einzuführen - weil es, sagte er, für mich wichtig wäre, zu wissen, wie das Stück gespielt wird, nicht wie es gemacht worden ist.” Der Musik-wissenschaftler Frank Schneider (geboren 1942 in Großerkmannsdorf, deutscher Musikwissenschaftler, 1992-2009Intendant des Schauspielhauses Berlin (Konzerthaus Berlin)bewertete das Werk in Weberns Schaffen folgendermaßen: “Weder war Webern Pianist, noch widmete er als Tonsetzer dem Klavier besondere Aufmerksamkeit. Sein marksteinsetzendes Werk für dieses Instrument, die Variationen op. 27, entstand erst 9 Jahre vor dem Tode des Komponisten… Die immer wieder hervorgehobene Tendenz der Webernschen Musik zur Aussparung, zur Schrumpfung und zum Verstummen wendet sich gewiss gegen ein Weltgeschrei, vor dessen brutaler Gewalt und mörderischen Konsequenzen er gerade in jenen Jahren in Österreich allen Grund hatte, sich - wenn auch ohnmächtig - abzuschließen. Die Beschäftigung mit Musik, wenige Freunde und Schüler blieben als Ermutigung für Webern, der zunehmend vereinsamte, künstlerisch totgeschwiegen wurde und oft am Rande der materiellen Not lebte. Das dreiteilige Werk dauert nur wenige Minuten. Trotz seiner die bisherige Klaviertechnik umstülpenden, auf alle gewohnten pianistischen Virtuoseneffekte verzichtenden technischen Schwierig-keiten ist es seine meistgespielte Komposition geworden. Während der Eröffnungssatz noch an einem melisch durchhörbaren Motivspiel festhält, bringt der Mittelsatz (Sehr schnell, 2/4) impulsivere, rhythmisch-tokkatische Elemente ins Spiel. Er ist von scherzoser Agilität und von blitzender Eleganz und verlangt vom Spieler eine enorme Sprungtechnik, die in punktueller Manier fast jeden einzelnen Ton individuell artikulieren muß. Der 3. Satz (Ruhig fließend, 3/2) kann demgegenüber durchaus als eine Art reduktive Synthese der bisherigen Abläufe verstanden werden, weil in ihm die Idee des Variierens gleichsam zur intensivierten, einstimmig gebrochenen Linearität zusammengezogen erscheint. ”http://www.kammermusikfuehrer.de/werke/3548

Sein letztes Streichquartett, das op. 28,  komponierte Webern 1937/38. Am 12. März 1938, dem Tag des Einmarsches Hitlers in Österreich, schrieb er an das Ehepaar Jone-Humplik: „Ich bin ganz in meiner Arbeit und mag, mag nicht gestört sein.“ Es entstand ein Werk von einer selbst bei Webern beispiellosen Konzentration des Ausdrucks und der Kompositionstechnik. Adorno sprach gar von „Reihenfetischismus“ und „Versimpelung der Musik“. Allerdings prägt die besonders komplex entworfene Reihe die Struktur der Komposition bis ins letzte Detail. Die wichtigsten Relationen sind die folgenden: Die Reihe gliedert sich in drei Viertongruppen, die erste und dritte sind das berühmte BACH-Motiv, die zweite dessen Umkehrung. Gleichzeitig zerfällt sie in zwei Sechstongruppen, deren zweite die Krebsumkehrung der ersten bildet. Der erste, siebenteilige Satz, durch Tempomodifikationen und unterschiedliche Dichte des kontrapunktischen Satzes gegliedert, bringt immer wieder neue Kombinationen der zentralen Viertongruppe. Webern schreibt darüber 1939 in einer umfangreichen Analyse für Erwin Stein: „Der I. Satz ist ein Variationen-Satz; aber mit den Variationen ist auch eine Adagio-Form gegeben und das primär. D.h. diese liegt dem Satz in der formalen Konstruktion zu Grunde und dementsprechend sind die Variationen geworden.“ Der zweite Satz, eine „Scherzo-Miniatur“ (Webern), ist klar dreiteilig gegliedert. Ein pizzicato vorgetragener vier-stimmiger Umkehrungskanon kontrastiert mit einem bewegten expressiven Mittelteil (arco). Über den dritten Satz schrieb Webern: „Er soll innerhalb des Werkes sozusagen die ,Krönung’ der auch schon in 1. und 2. angestrebten ,Synthese’ von ‚horizontaler’ und ‚vertikaler’ Darstellung sein. Wie bekannt, erwuchsen auf der Basis der ersteren die Formen des klassischen Cyklus, Sonate, Symphonie u.s.f., auf der zweiten die ‚Polyphonie’ und die mit dieser gegebenen Formen, Canon, Fuge u.s.w. Und nun versuchte ich hier nicht nur allgemein die Gesetzmäßigkeit beider zu erfüllen, sondern im besonderen die Formen direkt zu verbinden ... Primär gegeben ist eine ‚Scherzo’-Form, mit ihr also Thema-Durchführung-Reprise. In dieser Hinsicht waren die Gesetzmäßigkeiten der ‚horizontalen’ Darstellungsart maßgebend. Aber die ‚Durchführung’ stellt eine Fuge dar, deren 3. ‚Durchführung’ die Reprise des Scherzo-Themas, Erfüllung der Scherzo-Form ist!“ Webern unternahm also in der traditionell hochgeachteten Streichquartettbesetzung den Versuch, Fugen- und Sonatenform, polyphone und homophone Konzeptionen zu vereinigen, ein Ideal, das seit der Wiener Klassik, zumal seit Beethoven, immer wieder Komponisten zu realisieren gesucht hatten. Das BACH-Motiv erhält so, neben seiner konstruktiven Funktion, eine besondere ideelle Bedeutung. (Manfred Angerer)