TRADITION IST NICHT DIE ANBETUNG DER ASCHE, SONDERN DIE  WEITERGABE DES FEUERS

 


Enescu oder Schönberg, das ist hier die Frage

ein Vortrag von Heidemarie T. Ambros,

gehalten zum Kolloquium „Iubiţi muzica românească!“ [Lieben Sie rumänische Musik!]
Die Entwicklung der zeitgenössischen rumänischen Musik im mondialen Kontext.

am 12. Oktober 2017 in Arad


Summarium:

Iubiti muzica romaneasca“ ist das Motto dieses Festivals. Ist das als Aufforderung oder als Frage gemeint, so wie Françoise Sagan's „Lieben Sie Brahms?“

Gewiss liebten die in Rumänien geborenen Komponisten, von denen ich hier sprechen will, rumänische Musik - wer nicht?! - aber offensichtlich wollten Sie auch wissen, was denn „draußen“ hinter der Grenze sich so begab. „Kosmopolitisch“ war ein in der jungen Generation sehr attraktiver Begriff, ganz anders als er später, im realsozialistischen Denksystem, bewertet wurde. Doch auch in ihrer aller Oeuvre finden sich zumindest einzelne Kompositionssätze „à la romaneasca“ oder „dans le style populaire roumain“.

Ich werde Ihnen hier ein Panorama ausbreiten, gewonnen aus den Konzertprojekten, die 'musica suprimata' seit 2011 in Rumänien veranstaltet. Ich werde sprechen über

Norbert von Hannenheim (1898 Hermannstadt-Sibiu - 1945 Obrawalde in Pommern)

Philipp Herschkowitz (1906 Jassy-Iaşi - 1989 Wien)

peripherer über den Tschechen Viktor Ullmann (1898 Schlesisch Teschen - 1944 KZ Auschwitz)

sowie über Marcel Mihalovici (1898 Bukarest - 1985 Paris) und

über Henryk Neugeboren / Henri Nouveau, (1901 Kronstadt-Braşov - 1959 Paris),

die keine dezidierten Zwölftöner waren.

Norbert von Hannenheim verschrieb sich absolut der Kompositionsmethode mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen, die er bei Schönberg in Berlin studiert hatte. Er komponierte in Reihentechnik, blieb in der jeweiligen Komposition allerdings nicht bei einer einzigen, sondern stellte mehrere auf.

Philipp Herschkowitz studierte nächst bei Alban Berg und dann die längste Zeit bei Anton Webern. Sie waren eine Dreiergemeinschaft: Schönberg, Berg und Webern. Webern gilt als derjenige, der die Materie am intensivsten durchdrungen hat. Ihnen allen galt Beethoven als das Maß aller Dinge. Ihn vor allen analysierten sie, um die Zwölftontechnik auszureifen. In diesem Geist hat Herschkowitz die Stafette von Webern übernommen und selber so an seine Schüler weitergereicht. Seine Erinnerungen an Berg und Webern hatten keineswegs den Charakter von Memoiren.  Beim Lehren der Theorie der Formen und ihrer Analyse hatten er sowie Webern und Schönberg das Ziel, dem Schüler die Qualität eines Denkers auf dem Gebiet der musikalischen Form zu verleihen. Die Ehrfurcht, die die jüngeren Komponisten für Herschkowitz empfanden, zeigt sich in Schnittkes 1989er Nachruf für den Komponisten, der begann: "Es ist schwer, jemanden zu finden, der so viele Generationen von Komponisten so stark beeinflusst hat ... Herschkowitz musste seinen Schülern nur noch sagen, was Webern ihm einmal von Beethovens Werken erzählt hatte, und aus seinem Mund war das Erklärung genug für Geschichte, Vorgeschichte und künftige Geschichte der bedeutendsten musikalischen Formen.“


In eine andere Richtung, nämlich nach Paris, ging Marcel Mihailovici, angezogen von George Enescu. 1885 geboren, hatte Enescu in Wien und Paris studiert, 1898 erklang dort sein Opus 1, das Poème roumain. Parallel zu seinen Aktivitäten in Paris wirkte er jedoch auch in seinem Heimatland, wo er ein Haus in Sinaia besaß.  1912 wurde in Bukarest der Enescu-Preis für Komposition ins Leben gerufen, der nur für rumänische Musik verliehen wurde. Enescu hatte auf diese Weise den rumänischen Nationalstil propagiert. National geprägte Musik zu schaffen, war für die Komponisten des fin de siècle durchaus ein Mittel der Wahl, der Schablone der Neoromantik zu entkommen. Nach dem I. Weltkrieg rang man dringend um eine neue Tonsprache. Mihailovici gründete dann in Paris, zusammen mit anderen osteuropäischen Kollegen, die Groupe Triton für zeitgenössische Musik. „Triton“ steht für Tritonus, den vermaledeiten Akkord in der Mitte der harmonischen Tonskala. Doch die Akkorde waren ja inzwischen dank Schönberg schon frei und es gab keine Harmonien bzw. Disharmonien mehr, um die man einen Bogen hätte machen müssen.

Henrik Neugeboren profitierte vom Pariser Musikleben, aber nicht nur davon, denn er hatte am Bauhaus in Dessau studiert, wo vor allem die Bildende Kunst neu geformt wurde. Er ist vor allem als Maler bekannt geworden.

Auslegung:

Norbert von Hannenheim wurde 1898 in Hermannstadt-Sibiu geboren, im selben Jahr Viktor Ullmann in Schlesisch Teschen. Beide mussten die Schrecken des I. Weltkriegs an der Isonzo-Front erleben, da waren sie gerade einmal 18 Jahre alt. Zwar großjährig, aber eigentlich immer noch Heranwachsende, sehr junge Seelen.

Viktor Ullmann wurde nach Kriegsende 1918  in Schönbergs Kompositions-Seminar aufgenommen. Er setzte damit seine Schönberg-Studien, zu denen er sich schon vor dem Krieg entschieden hatte, direkt nach dem Krieg fort.


Norbert von Hannenheim, obwohl gleichalt, vollzog den Schritt in die Meisterklasse Schönbergs erst rund 10 Jahre später, nun nicht mehr in Wien, sondern in Berlin. Er musste zunächst einmal die Erlebnisse an der Front verwinden, ehe er zum Weiterstudium bereit war. Vor dem Krieg hatte er autodidaktisch komponiert, sein Erstlingswerk sollte 1916 in Hermannstadt aufgeführt werden, doch das verhinderte die Einberufung an die Isonzo-Front. 1922 begann er sein Musikstudium bei Paul Graener in Leipzig

1925 erhielt er für die erste von sechs in diesem Jahre in Folge komponierten Violinsonaten den George-Enescu-Kompositionspreis. Es bleibt auch später ein Charakteristikum Hannenheims, dass er gerne fast gleichzeitig mehrere Werke für dasselbe Soloinstrument oder Ensemble schrieb. 1926 bewarb er sich erneut um den Preis und fand eine Gelegenheit, dem Meister Enescu mehrere seiner Kompositionen vorzulegen, der sich dann ihnen in Gegenwart eines kleinen musikalischen Auditoriums in einem zweistündigen Gedankenaustausch am Klavier mit größtem Interesse widmete. Doch band sich Hannenheim nicht an Enescu, wie es der gleichaltrige Marcel Mihailovici tat, vielmehr richtete er an Schönberg ein erfolgreiches Aufnahmegesuch in dessen Meisterklasse. Aber vorher stockte er noch seine Kompositionsausbildung 1928/29 bei Alexander Jemnitz in Budapest weiter auf. Jemnitz war selbst einen ähnlichen Weg gegangen: von 1908 bis -13 studierte er in Leipzig bei Max Reger und in den Jahren 1913-15 bei Schönberg in Berlin.

1929 erfolgte der Umzug Hannenheims nach Berlin und der Eintritt in die Meisterklasse Schönbergs.  Schönberg war, wie es sein Schüler Alfred Keller formuliert, "der Leiter der berühmtesten und exclusivsten Kompositionsmeisterklasse, die es es wohl je gegeben hatte". Die Berufung als Nachfolger Busonis war mit Sicherheit Schönbergs eklatantester gesellschaftlicher Erfolg. Als er die Meisterklasse in Berlin übernahm, befand er sich auf dem Gipfel seines europäischen Ruhms. Schönbergs Rausschmiss aus Deutschland erfolgte im Herbst 1933.

Anfang der 1930er-Jahre komponierte Hannenheim eine große Anzahl unterschiedlicher Werke. Der Felix Mendelssohn Bartholdy-Preis wurde ihm 1932 zugesprochen (heutzutage wird er von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz verliehen). Sein „2. Klavierkonzert mit kleinem Orchester“ in einem Satz (verschollen, bis auf den Klavierpart) feierte große Erfolge und wurde über viele Sender verbreitet.

1933 erhielt er den Emil-Hertzka-Preis für seine 5. Sinfonie (leider verschollen). Dieser Preis im Gedenken an den 1932 verstorbenen Direktor der Universal Edition wurde in den Jahren 1933 bis -37 verliehen.


Arnold Schönberg hielt Hannenheim für einen seiner begabtesten Schüler. Auch von den Mitschülern sind einige Beschreibungen überliefert, die seine Sonderstellung unter den Meisterschülern zeigen. So berichtete etwa Erich Schmid: »Er war absolut selbständig in seinen Urteilen und ließ sich – auch von Schönberg – nicht belehren. Er war wohl der Einzige, der Schönberg hemmungslos widersprach.«  

In der Tat hat Arnold Schönberg Hannenheim in späteren Jahren – noch in Amerika – als einen seiner besten Schüler genannt und sich brieflich nach seinem Verbleiben erkundigt.

Hans Heinz Stuckenschmidt (berühmter, seit den 1920er Jahren in Berlin tätiger Musikkritiker und schriftsteller mit dezidiertem Eintreten für die Neue Musik und demzufolge Berufsverbot während des Nationalsozialismus) hat die amerikanische Öffentlichkeit bereits mit einem in „Modern Music“ veröffentlichten Aufsatz auf Hannenheim aufmerksam gemacht, doch scheint seine Musik außerhalb Europas nirgends bekannt geworden zu sein, obwohl sie auf internationalen Musikfesten zu Gehör gekommen war. Stuckenschmidt nannte ihn in seinem Artikel einen »der wirklich Talentierten der jüngeren Generation. „Ein Schüler Schönbergs, verkörpert er die Lehre des Meisters in einer ganz persönlichen und durchdachten Weise. Die Individualität seines Stils liegt in perfektem tonalem Gleichgewicht und findet Ausdruck in einem Reichtum von Intervallen, der jede Note, jeden Akkord, jede horizontale und vertikale Linie der Struktur miteinander verbindet. („Modern Music“, vol. X, 1932/33, p. 166) «

Mit dem Dritten Reich fand Hannenheims Karriere ein Ende, es kam nur noch zu wenigen Aufführungen. Zwar schrieb er viel, aufgeführt wurde einiges, doch gedruckt nichts, und von 1933 an war er als Zwölftöner so chancenlos, dass er in einem Brief an die Reichsmusikkammer um ein Stipendium bat. In den betreffenden Akten fand Herbert Henck, Herausgeber der Monografie über Hannenheim, bestätigt, dass der Komponist »zeitweise tagelang nichts zu essen hatte.« Während dieser Zeit hielt sich der Komponist mit Volksliedbearbeitungen über Wasser, politische Aufträge – wie etwa eine Komposition für die Berliner Olympiade – lehnte er ab.

Offenbar erkrankte Hannenheim dann psychisch und wurde im Juli 1944 nach einem schizophrenen Anfall - ständiger Hunger über längere Zeit wirkt sich auch auf das Gehirn aus - in eine Berliner Klinik eingewiesen, von dort in die pommersche Landesheilanstalt Obrawalde bei Meseritz. Nachdem Hannenheim die Unterbringung in der nationalsozialistischen Euthanasieklinik überlebt hatte, verstarb er kurz nach Kriegsende, laut Totenschein an Herzversagen am 29. September 1945 im Landeskrankenhaus Obrawalde.


Von Hannenheim, der im zeitgenössischen Berliner Musikleben gut dokumentiert ist, sind – bedingt durch die Wirren des Zweiten Weltkrieges – leider nur sehr wenige Werke überliefert. Ein Großteil seiner Werke lag in einem Berliner Banktresor, der zerstört oder geplündert wurde.

Ein Verzeichnis seiner von ihm selbst angemeldeten Kompositionen enthält mehr als 200 Werke: Sinfonien, Kammermusik, Chöre, Lieder u.a. Inzwischen aufgefunden und verfügbar sind etwa 50 Kompositionen


Einige Charakteristika von Hannenheims Kompositionen sind bei dem 2015 Kolloquium in Cluj referiert worden, z.B. von Gabriel Iranyi:

Von allen seinen verbliebenen Streichquartetten zeigt das Streichquartett Nr. II exemplarisch eine gesteigerte Beschäftigung mit polyphonischen Strukturen: diese ziehen wie ein roter Faden durch alle 3 Sätze und wirken entscheidend auf den Aufbau der Gesamtform hin. Ich würde daher dem Streichquartett Nr. II den Beinamen Polyphonia“ geben, und zwar wegen der konsequenten und exklusiven Präsenz der Mehrstimmigkeit: die Musik ist durchaus 12-tönig, die Komplexität ist extrem und die Homophonie (Akkorde und belgleitenden Stimmen) existiert hier überhaupt nicht mehr.

Durch Hannenheims Liedschaffen hindurch zieht sich die allgemeine Tendenz der Schönbergschule zu sehr schnellen Tempi – inspiriert durch die Metronomangaben Beethovens – , und der Singstimme werden - in der Schönbergschule ebenfalls nichts Ungewöhnliches - über längere Strecken sehr hohe Töne abverlangt. Aber haben wir das nicht auch im Ohr von Beethovens "Ode an die Freude"? , so Siegfried Mauser beim Kolloquium.

Nach dieem Kolloquium begann die Edition der Werke Hannenheims im Musikverlag Boosey & Hawkes.



Philipp Herschkowitz studierte schon nicht mehr bei Schönberg selbst, der war ja inzwischen in Berlin,  sondern zunächst bei Alban Berg und dann bei Anton Webern.


"Bei Anton Webern [...] hat die Zwölftonreihe eine andere Funktion als bei Schönberg. »Ein Thema ist die Zwölftonreihe im allgemeinen nicht«, sagte er in einem seiner Vorträge Wege zur neuen Musik. »Aber ich kann vermöge der jetzt auf andere Weise gewährleisteten Einheit auch ohne Thematik - also viel freier - arbeiten: die Reihe sichert mir den Zusammenhang. Als wir die Tonalität allmählich aufgaben, kam die Idee auf: wir wollen nicht wiederholen, es soll immer etwas Neues komponiert werden! Es ist selbstverständlich, dass das nicht geht, da es die Fasslichkeit zerstört.«

Arnold Schönberg in Brahms der Fortschrittliche, in Stil und Gedanke, S. 100-110, Zitat "Form in der Musik dient dazu, Fasslichkeit durch Erinnerung zu bewirken. Ausgewogenheit, Regelmäßigkeit, Symmetrie, Unter-teilung, Wiederholung, Einheit, rhythmische und harmonische Beziehungen und sogar Logik - keines dieser Elemente schafft Schönheit oder trägt auch nur zu ihr bei. Aber sie alle tragen bei zu einer Organisation, die die Darstellung des musikalischen Gedankens verständlich macht. [...] In der Sphäre der Kunstmusik respektiert der Autor sein Publikum. Er fürchtet es zu beleidigen, indem er immerzu wiederholt, was beim einmaligen Hören erfasst werden kann, selbst wenn es neuartig, und erst recht, wenn es abgestandenes altes Zeug ist. Ein Diagramm kann dem Schachexperten die ganze Geschichte eines Spiels erzählen. [...] Ein wacher Geist [...] fordert nachdrücklich, dass mit ihm in kurzer und direkter Sprache geredet werde."

Zwei Worte sind in diesen Sätzen wichtig: Zusammenhang und Fasslichkeit. Der Zusammenhang wird durch die Zwölftonreihe erreicht. Fasslich wird sie bei Webern dadurch, dass er sie in Motive gliedert, die im Verlauf der Komposition ständig verändert werden. Goethes Metamorphose-Satz 'Alle Gestalten sind ähnlich und keine gleichet der andern' ist Weberns oberstes Formprinzip.



Nun zu Herschkowitz selber:

Der in Rumänien geborene Filipp Herschkowitz war ein Student von Berg und Webern, der, vor den Nazis geflohen, ab 1946 in der Sowjetunion lebte, wo er zahlreiche Artikel über Musik aller Perioden schrieb und sich mit verschiedenen "Studenten" traf, um Kompositionen zu diskutieren und zu analysieren. Informell, denn eine offizielle staatliche Lehrerlaubnis gab man ihm, dem "Formalisten", nicht.

Herschkowitz war äußerst arm und empfing die Schüler nicht bei sich, sondern suchte sie in ihren Wohnungen auf, auf der Suche nach Gesellschaft und nach Gesprächen über Musik. Er studierte mit ihnen nicht serielle Musik, sondern Musik des 19. Jahrhunderts, und besonders Beethoven-Sonaten. Das war die Art, wie auch Schönberg und Webern gelehrt hatten. "... ich verdanke Webern den Inhalt meines Lebens: meine Beziehung zur Musik. Er hat mir die Bedeutung, die dem Begriff "Beethoven" zukommt, zugänglich gemacht. Von ihm, der mir verständlich gemacht hat, dass eine jede Musik von Beethoven ausgehend zu betrachten, und warum eine solche Betrachtung die einzig notwendige ist, habe ich also eigentlich erfahren, was Musik ist. Weil das Wissen um das Wesen der Musik und das Wissen um das Wesen dessen, was die großen Meister von Bach bis Schönberg miteinander verbindet, identisch sind." (Herschkowitz in Über Musik, S. 139)   Ausnahmen waren Vorlesungen über "die musikalischen Ansichten von Anton Webern". Seine Erinnerungen an Berg und Webern hatten keineswegs den Charakter von Memoiren.  Beim Lehren der Theorie der Formen und ihrer Analyse hatten er sowie Webern und Schönberg das Ziel, dem Schüler die Qualität eines Denkers auf dem Gebiet der musikalischen Form zu verleihen.

Die Ehrfurcht, die die jüngeren Komponisten für Herschkowitz empfanden, zeigt sich in Schnittkes 1989er Nachruf für den Komponisten, der begann: "Es ist schwer, jemanden zu finden, der so viele Generationen von Komponisten so stark beeinflusst hat ... Herschkowitz musste seinen Schülern nur noch sagen, was Webern ihm einmal von Beethovens Sonaten erzählt hatte, und aus seinem Mund war das Erklärung genug für Geschichte, Vorgeschichte und künftige Geschichte der bedeutendsten musikalischen Formen."

Herschkowitz kam 1927 nach Wien und studierte bei Josef Marx. Marx hatte  zwei umfangreiche Dissertationen über Klangpsychologie und das Wesen der Tonalität vorgelegt, die auf der Pionierarbeit des Musikwissenschaftlers Hugo Riemann basierten. (Mit der dem harmonischen Dualismus verpflichteten Theorie der Funktionen - sie beschreibt die Verhältnisse zwischen den Akkorden in dur-moll-tonaler Musik - schuf Riemann eine neue Grundlage für die harmonische Analyse.)

Privat studierte Herschkowitz bei Alban Berg (1928–31) und wurde einer seiner engsten Freunde. Von 1932 bis 1938 edierte er die Werke Bergs als freier Mitarbeiter der Universal Edition. Im Sommer 1932 nahm er an einem Dirigierkurs Hermann Scherchens in Straßburg teil, von 1934 bis 1939 studierte er noch einmal Komposition, und zwar bei Anton Webern, dessen Schriften er später ins Russische übersetzte. Webern gab ihm auf die Flucht - 1939 floh Herschkowitz zunächst in seine rumänische Heimatstadt Jassy - ein handgeschriebenes Zeugnis mit, das besagte, Herschkowitz, der einen voll-ständigen Kompositionskurs bei ihm absolviert hatte, habe das Recht, Komposition und Theorie zu lehren. Im November 1940 floh Herschkowitz weiter in die ukrainisch gewordene Bukowina und lehrte von November 1940 bis Juni 1941 am Konservatorium von Czernowitz, von dort floh er weiter nach Usbekistan und lehrte 1941-44 in Taschkent. 1942 wurde er in den sowjetischen Komponistenverband aufgenommen, war 1944 Mitarbeiter des Instituts für Kunst in Taschkent, von 1944-46 erforschte er in der Usbekischen Republik Volkslieder und arbeitete als musikalischer Leiter am Taschkenter Theater. 1946 ließ er sich in Moskau nieder und arbeitete als freier Mitarbeiter im Verlag MUSFONT, außerdem für ein Filmmusik-Orchester. 1949 wurde er aus dem Komponistenverband ausgeschlossen. Ab 1960 gab er Privatunterricht, wobei er - vermutlich als einziger Lehrer in der Sowjetunion - die Tradition der Zweiten Wiener Schule pflegte. Unter anderen studierten die Komponisten Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, Elena Firsowa und Dmitri Smirnov und Edison Denisov und auch die Pianisten Elisabeth Leonskaja und Alexei Lubimov bei ihm die Musiktheorie Weberns. 1968 erhielt Herschkowitz ein Lektorat an der Musikhochschule in Kiew, 1969 in Eriwan. 1979 wurde er aus dem Verlag MUSFONT ausgeschlossen und lebte daraufhin in großer materieller Bedrängnis. Ein Ausreisebegehren nach Israel wurde mit dem Entzug seines Klavieres bestraft. Auf Einladung der Alban Berg-Stiftung wurde er 1987 aus der Sowjetunion losgeeist und konnte endlich wieder in Wien leben. Zwei Jahre lang lebte er noch in der ihm gemäßen Atmosphäre.

Seine bis 1968 entstandenen Kompositionen sind verloren gegangen. Der Nachlass befindet sich in Wien. 1991 erschien Herschkowitz' "O Muzyke" [Über die Musik. Viertes Buch] auf Russisch, ediert von seinem langjährigen Schüler Leonid Hofman.

Wie bereits erwähnt, ist diese Schriftensammlung in der Edition von Lena Herschkowitz und Klaus Linder 1997 in deutscher Sprache in Wien herausgegeben worden.


Fast alle erhaltenen Kompositionen von Herschkowitz stammen aus der Zeit nach 1945, darunter Klavierwerke, Lieder, Kammermusik und Gesänge mit Orchesterbegleitung. Bis heute sind Herschkowitz' Kompositionen unver-öffentlicht und teilweise unauffindbar. „Die einzige Aufführung seiner Kompositionen im Moskauer Exil fand 1960 statt und präsentierte zwei Liederzyklen nach Gedichten von Paul Celan und Ion Barbu. Die Barbu-Lieder sind jetzt beim Timisoarer Kolloquium von Laura Manolache analysiert worden.

Eine Auflistung der Kompositionen und Aufführungen hat das 'musica suprimata'-Mitglied Margarete Buch verfasst.


Die folgenden Texte stammen aus dem Buch Philip Herschkowitz. Über Musik. Viertes Buch. Hrsg. von Lena Herschkowitz und Klaus Linder. Wien 1997

"Selbstverständlich muss in einem ersten Augenblick die Vorstellung, dass es eine organische Beziehung zwischen Tonalität und Zwölftonsystem gibt, den Eindruck eines Unsinns machen: im Gegensatz zur Tonalität, die eine Naturerscheinung ist, stellt das Zwölftonsystem nichts anderes als eine Schöpfung des Menschen dar. Als Ergebnis einer näheren Untersuchung stellt sich aber die Einsicht ein, dass diese Beziehung nichts mit einer Unsinnigkeit gemein hat. Das Entstehen eines künstlichen Tonsystems in der

Epoche, in welcher die künstliche Radioaktivität aufgekommen ist, darf nicht als Zufall betrachtet werden. Sowohl das eine als auch das andere wider-spiegelt das Maß und die Qualität der Änderungen, die in unserem Jahrhundert die Beziehungen zwischen Mensch und Natur erlitten haben - , widerspiegelt die neuen Züge, welche nun diesen Beziehungen eigen sind.

Das Zwölftonsystem ist - genauso wie die künstliche Radioaktivität - eine mittelbare Naturerscheinung. Während aber die sekundäre Naturgegebenheit der letzteren offenbar ist, muss diejenige des hier behandelten Tonsystems bewiesen werden, und zwar dadurch, dass man dessen organische Beziehung zur Vergangenheit der Musik aufdeckt." (S. 66) "Die Untersuchung der Konsonanzen und Dissonanzen sowie der mit ihnen eng verbundenen Obertonreihe stellt eine Sache dar, welche eine große historische Perspektive eröffnet. Obige Auseinandersetzung mit dem "Organum" bildet eine hervorragende Veranschaulichung des Schönbergschen Lehrsatzes von der Widerspiegelung der Entwicklung, welche das Gehör im Laufe der Jahr-hunderte durchmacht, durch den Musikentwicklungsprozess. Eben in diesem Zusammenhang ist es nicht überflüssig zu wiederholen, dass in einer fernen Vergangenheit die Zugehörigkeit der Terz und der Sext zur Dissonanzen-kategorie einen absoluten Beweis für das Vorhandensein der Tendenz aller Dissonanzen darstellt, sich früh oder spät in Konsonanzen zu verwandeln. Diese Einsicht zwingt uns die Kardinalfrage auf: Wenn den Dissonanzen als solchen der Anspruch auf Ewigkeit versagt bleibt, kann dann einen solchen Anspruch das Meer haben, dessen Tropfen die Zusammenklänge, die Intervalle, die Akkorde sind? Das heißt, das Tonsystem? Somit kommen wir an unseren zweiten Leitsatz heran, der auch tatsächlich lautet: Es gibt kein ewiges Tonsystem." (S.70-71)

Das von Margarete Buch erstellte Werkverzeichnis listet den Nachlass auf, der sich in der Wienbibliothek befindet. Inzwischen haben Dmitri Smirnov und Robin Haigh einige Kompositionen für kleines Ensemble transponiert.


Jetzt will ich vom Schönberg-Kreis abgehen und rumänische Komponisten in einer anderen Traditionskette kurz aufzeigen.

Marcel Mihalovici, im selben Jahr 1898 geboren wie Norbert von Hannenheim und Viktor Ullmann. Er war Jude wie Herschkowitz, der sich auf rumänische Art natürlich nicht „...witz“, sondern „...witsch/=vici“ schrieb. Wie Hannenheim gewann auch er mehrmals den Enescu-Preis.

Er lebte seit 1919 in Paris, studierte bei Vincent d'Indy. Seine oft folkloristisch angelegten Kompositionen sind gelegentlich zur Zwölftontechnik erweitert.


Mit neun Jahren erhielt Mihalovici ersten Violinunterricht. Er schätzte das Instrument auch deshalb, weil er mit Freunden eigene Kammermusik-formationen initiieren und mit fünfzehn Jahren Repertoire von Beethoven, Mozart, Haydn und Brahms spielen konnte. Hier zeigte sich schon ein Grundzug seines Wesens: Seine Welt war die Musik, und er liebte es, die Musik zusammen mit Freunden auszuüben. Viele bekannt gewordene Komponisten gesellten sich nach und nach zu seinem Kreis der Weggefährten und Freunde, der sich in Paris herausbildete, wohin er sich auf Anraten George Enescus 1919 aufmachte, um an der Schola Cantorum Unterricht zu nehmen. Für das Klavierstück Trois Nocturnes, noch in Rumänien entstanden, gewann Mihalovici erstmals im Jahre 1919 den Prix national de composition George Enescu. Er gewann ihn auch 1921 und zum dritten Mal 1925 für das bereits 1921 begonnene Orchesterstück Introduction et mouvement symphonique op. 22.

Zu den Freunden, die sich um Mihalovici in Paris scharten, gehörten der Ungar Tibor Harsanyi, der Böhme Bohuslav Martinů, der Georgier Alexander Tcherepnin, der Schweizer Conrad Beck, der Pole Aleksander Tansman, der in Paris geborene, 15 Jahre ältere Schweizer Edgard Varese, der Rumäne Stan Golestan, ganze 25 Jahre älter als Mihalovici; Mihai Jora, ebenfalls Rumäne. Sie alle bildeten das, was man heute ein Netzwerk nennt, halfen einander und lancierten nicht nur die eigenen Werke. Und sie widmeten sie sich auch gegenseitig.

Genug vorerst des Namedroppings, nur noch der spätere Weggefährte bei der Kammermusikgesellschaft Le Triton, Pierre Octave-Ferroud, soll noch erwähnt sein. Ferroud gründete 1932 die "Société de Musique de Chambre Le Triton", die eine wichtige Rolle in der Verbreitung zeitgenössischer Musik spielte und die bisher in Frankreich selten gespielten Werke ausländischer Komponisten bekannt machte. "Triton" meint mitnichten den Meeresgott, sondern das "Teufelsintervall" Tritonus, das durch Schönbergs Methode der Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen aus der vermaledeiten Stellung befreit worden war. Mihalovicis jährliche Rumänien-Besuche bei der Familie führten auch dazu, dass auch dort Triton-Konzerte durchgeführt wurden, etwa am 14. 1. 1936 mit Werken von Milhaud, Ibert, Ferroud, Honegger, Harsanyi und Roussel.

Bei Lukas Näf an der Musikhochschule Zürich ist ein Werkverzeichnis zu erhalten.

Einige Noten befinden sich auch im Bestand der Musikakademie in Cluj. Cornel Ţăranu hat während seines Studiums 1966-67 in Paris von Mihailovici viel Unterstützung erfahren.

Mihalovici beschäftigte sich in Paris nicht nur mit der Musik, sondern interessierte sich stark für die Bildende Kunst.

Der bildnerische Nachlass Mihalovicis umfasst zwei Zeichenhefte mit Porträts – etwa der Bildhauerin Irene Codreanu –, Skizzen in Bleistift und Tusche aus dem Jahre 1939 sowie zahlreiche Zeichnungen in Tinte aus den Jahren 1930, 1935/36 mit Sujets aus Paris (Jardin du Luxembourg) und Porträts.

Bereits im Sommer 1922 traf Mihalovici mit dem Bildhauer Constantin Brâncuşi zusammen, der zu einem engen Freund wurde.


Ebenfalls nach Paris gegangen war Henrik Neugeboren, (als Maler: Henri Nouveau), der 1901 in Kronstadt/Brassó/Braşov geboren wurde und 1959 in Paris starb.                                                                       
Neugeboren studierte 1921-25 Klavier und Komposition an der Musikhochschule in Berlin bei
Paul Juon und Ferruccio Busoni. 1926-27 nahm er Unterricht bei Nadja Boulanger in Paris.1927-29 hielt er sich am Bauhaus in Dessau auf, wo er seine "Helden" Klee und Kandinsky kennenlernte. 1929 fertigte er eine Skulptur, die eine Fuge von Bach nachempfand. Diese Skulptur auf der Grundlage der 4 Takte 52 bis 55 der Fuge in es-Moll aus dem 'Wohltemperierten Klavier' wurde im Januar 1929 zusammen mit dem Artikel Eine Bachfuge im Bild in der Bauhaus-Zeitung abgebildet, sie fand ihre Realisierung als öffentliche Skulptur in Leverkusen.

Als Komponist ausschließlich der Kammermusik zugetan, schuf Nouveau gleichzeitig als Maler zuerst meist Bilder von kleinem Format mit surrealistischen Figuren. Durch den Kunsttheoretiker, Maler und Bildhauer Hans Mattis-Teutsch, der ebenfalls aus Kronstadt stammte und damals in Paris lebte, kam er zur abstrakten Darstellungsweise. Seine meisten Hauptwerke entstanden jedoch in der Malweise des französischen Surrealismus. Im Jahr 1929 hatte Neugeboren/Nouveau seinen ständigen Wohnsitz in Paris, wo er 1930 auf Fürsprache Theo van Doesburgs zum ersten Mal ausstellen konnte. 1946 fand seine zweite Ausstellung unter Françis Picabia statt. Nach seinem Tod waren seine Werke 1961 im Stedelijk Museum  in Amsterdam zu sehen; 1989 war ihm eine Retrospektive im Musée Picasso in Antibes gewidmet.

Neugeborens musikalisches Œuvre bestand aus ca. 50 Werken in kleineren Besetzungen, die sich hauptsächlich in der Bibliothèque Nationale Paris befinden, z.B. die Quatre pièces sur des thèmes populaires roumains. Pour piano.
Ein anderer
Teil des Nachlasses befindet sich im Archiv der Akademie der Künste Berlin, übergeben vom Orpheus Trust Wien.