TRADITION IST NICHT DIE ANBETUNG DER ASCHE, SONDERN DIE  WEITERGABE DES FEUERS

 

Lassen wir uns von Thomas Mann in Doktor Faustus ins Thema einführen:  "... Schau, es ist kurios, - das heißt, natürlich ist nichts Kurioses daran, aber wenn man es selber zum ersten Male so ausmacht, ist es kurios, wie das alles zusammenhängt und im Kreise herumführt."  Und er ließ einen Akkord ertönen, lauter schwarze Tasten, fis, ais, cis, fügte ein e hinzu und demaskierte dadurch den Akkord, der wie Fis-Dur ausgesehen hatte, als zu H-Dur gehörig, nämlich als dessen fünfte oder Dominant-Stufe. "So ein Zusammenklang", meinte er, "hat an sich keine Tonart. Alles ist Beziehung, und die Beziehung bildet den Kreis." Das a, welches, indem es die Auflösung in gis erzwingt, von H- nach E-Dur überleitet, führte ihn weiter, und so kam er über A-, D- und G- nach C-Dur und in die mit Verminderungszeichen versehenen Tonarten, indem er mir demonstrierte, dass man auf einem jeden der zwölf Töne der chromatischen Leiter eine eigene Dur- und Moll-Skala errichten könne.  "Übrigens sind das alte Geschichten", sagte er. "Es ist länger her, dass mir das auffiel. Pass auf, wie man es feiner macht!" Und er fing an, mir Modulationen zwischen entlegeneren Tonarten zu zeigen, unter Ausnutzung der sogenannten Terzverwandtschaft, der Neapolitanischen Sext.  Nicht, dass er diese Dinge zu nennen gewusst hätte; aber er wiederholte:  "Beziehung ist alles. Und willst du sie näher bei Namen nennen, so ist ihr Name 'Zweideutigkeit'." Um dies Wort zu belegen, ließ er mich Akkord-Folgen von schwebender Tonart hören, demonstrierte mir, wie eine solche Folge in tonaler Schwebe zwischen C- und G-Dur bleibt, wenn man das f daraus weglässt, das in G-Dur zum fis würde; wie sie das Ohr im Ungewissen hält, ob sie als C- oder F-Dur verstanden sein will, wenn man das h vermeidet, das sich in F-Dur zum b vermindert.  "Weißt du, was ich finde?" fragte er. "Dass Musik die Zweideutigkeit ist als System. - Nimm den Ton oder den. Du kannst ihn so verstehen oder beziehungsweise auch so, kannst ihn als erhöht auffassen von unten oder als vermindert von oben und kannst dir, wenn du schlau bist, den Doppelsinn beliebig zunutze machen." Kurz, im Prinzip erwies er sich kundig der enharmonischen Verwechslung und nicht unkundig gewisser Tricks, wie man damit ausweicht und die Umdeutung zur Modulation benutzt.  Warum war ich mehr als überrascht, nämlich bewegt und auch ein wenig erschrocken? Er hatte erhitzte Wangen, wie er sie bei Schulaufgaben niemals, auch bei der Algebra nicht bekam.  Zwar bat ich ihn, mir doch noch etwas vorzuphantasieren, spürte aber etwas wie Erleichterung, als er es mir mit einem "Unsinn, Unsinn!" abschlug. ..."


  "Übrigens sind das alte Geschichten", also:  

Was ist das Alte an der Neuen Musik?  

Um es gleich vorweg zu sagen:  Schönberg und denen, die ihm folgen wollten, war die gesamte Musikentwicklung seit der Mensuralnotation  der Gregorianik über Bachs "Wohltemperiertes Klavier" bis zu Beethovens Durchführung in der Sonatenform präsent.

Anders als in der modernen Notenschrift konnten in der Modalnotation der Epoche um das Jahr 1200 noch keine einzelnen Notenwerte dargestellt werden. Vielmehr basierte sie auf sechs verschiedenen rhythmischen Formeln (Modi), die im Verlauf eines Stückes immer wieder wiederholt wurden. Die Musiklehre der Notre-Dame-Epoche unterscheidet sechs rhythmische Grundformen (Modi), die sich an der Kombination von langen und kurzen Werten erkennen lassen. Die melismatischen Abschnitte des Chorals ordnete man nach einem kurzen rhythmischen Modell (talea), z.B.: 3-2-1erPause -  2-1-2-1erPause –.

Mit der Mensuralnotation, die vom 13. bis etwa 16. Jahrhundert für europäische polyphone Vokalmusik verwendet wurde  kann man präzise rhythmische Dauern als Zahlenverhältnisse zwischen Notenwerten beschreiben.

Damit hatte man etwas Errechnetes geschaffen, ein Maß, auf das man immer wieder zurückkommen konnte, das man auch demjenigen mitteilen konnte, der beim ersten Mal nicht beim Musizieren dabei war, an dem man immer wieder Maß nehmen konnte und sich mit anderen Menschen darin verabreden konnte.  Ja, es hilft nichts, es ist so. Auch wenn wir als Publikum Musik vor allem mit den Sinnen und der Seele aufnehmen zu sollen meinen, ihr mit dem Gefühl emphatisch-empathisch und unkritisch begegnen wollen -  alles andere wäre vielleicht ein Sakrileg? -, sie ist dennoch auf der objektiven Ebene ein physikalischer Vorgang, eine Sache der Schwingungen, die messbar sind, mathematisch berechenbar, und andererseits ihre Wirkung auf die Gefühlsebene ausüben.    Dies zu wissen, heißt, das Material zu kennen, das man einsetzen möchte.

Bereits von der Entwicklung geordneter Tonsysteme an wurden Tonarten bestimmte Ausdrucksqualitäten zugesprochen. Bei den in der Musikgeschichte überwiegend verwendeten nicht-gleichstufigen Stimmungen fielen die Intervalle der Töne bei verschiedenen Tonarten hörbar unterschiedlich aus und verliehen so den Tonarten individuelle Charakteristiken.

In ihrer absoluten  Tonhöhe stimmen Tonarten mit körpereigenen Frequenzen, wie zum Beispiel den feststehenden Formanten der Vokale, überein oder weichen von ihnen ab. Damit gehen möglicherweise synästhetische Verknüpfungen einher.

Das hatte Einfluss auf die Hörgewohnheiten, die sich einschleifen konnten, weil bestimmte Tonverbindungen leichter zu greifen sind und wegen der leichten Erreichbarkeit bevorzugt wurden. Allerdings nimmt das menschliche Gehör Töne unterschiedlicher Frequenz und gleicher Amplitude, also einen Ton oktaviert, nicht als gleich laut wahr. Zusätzlich finden zwischen verschiedenen Frequenzen in der „reinen Mechanik des Ohres“, also auf dem Weg zwischen Ohrmuschel über das Trommelfell bis hin zur Gehörschnecke, Intermodulationen zwischen den auftreffenden Frequenzen statt, das heißt, es bilden sich Mischprodukte bzw. neue Frequenzen, die ihrerseits von der Frequenz und der Differenz- und Summenfrequenz der ursprünglichen Schallwellen abhängen.

Ein komplizierter Vorgang, aber wir müssen ihn ja nicht "machen", das tut das Ohr allein, wir nehmen nur das Ergebnis wahr, aber eigentlich auch das nicht bewusst. Und darüber hinaus gibt es ein bemerkenswertes Phänomen: Unsauberkeiten hört sich das Ohr "zurecht". Dieses Phänomen gibt es auch bei der Wahrnehmung der Frequenzen im Sehbereich, das Auge tut Gleiches. Das haben wir alle schon erlebt: Ein Grau neben Rot sehen wir nach Grün hin. Ein Grau neben Gelb wirkt uns Lila.   

Andreas Werckmeister (1645-1706) entwickelte ab 1681 die Wohltemperierte Stimmung, die es ermöglichte, dass sich Flöte und Geige und Klavier zu gemeinsamem Musizieren verabreden konnten, obwohl die unterschiedlichen Schwingungsverhältnisse ihrer Instrumente unterschiedliche Halbtonverhältnisse gerieren.
Charakteristisch für wohltemperierte Stimmungen ist, dass alle wichtigen Intervalle nur insoweit von der reinen Stimmung abweichen, wie es das Ohr gut toleriert.

Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Sammlung von Präludien und Fugen für ein Tasteninstrument, das "Wohltemperierte Klavier" - Teil I von 1722, Teil II von 1740/42 -, diente nicht der Demonstration der gleichstufigen Stimmung, sondern vielmehr dem Hervorheben der Tonartcharaktere sowie der systematischen Anleitung, anders als bei der damals üblichen, mitteltönigen Stimmung möglich, in den Tonarten des gesamten Quintenzirkels zu komponieren.
Allerdings geht bei der gleichschwebenden Stimmung denn doch die Tonarten-charakteristik verloren, da alle kleinen Sekunden möglichst gleichmäßig als lauter gleiche Halbton-Schritte gestimmt werden. So gewinnt man zwar eine allseits stimmige Struktur, für's Konzertieren sehr präzise, beim Solovortrag allerdings empfindet sie das sensible Ohr denn doch als ein wenig unlebendig starr.   Dann kamen Schönberg und die anderen Mikrotonalisten. Sie hakten das Korsett wieder auf, doch mit der Welt der Zahlen hatten auch die neu gefundenen Systeme zu tun. Und danach potenzierte sich die Rechnerei noch mehrfach, nicht nur anhand von Tonhöhen, sondern auch von Tondauern und Lautstärken wurden Zahlen- oder Proportionsreihen, eben Serien, aufgebaut. Ob wir das Ergebnis als Musik empfinden, die man empfinden kann? Na, wir werden sehen. Vieles hängt von der Vertrautheit ab, von der abgebauten Berührungsangst, von der Bereitschaft, nichts zu antizipieren.    Versuchen wir also, uns auf dem Weg zurecht-zufinden. Nehmen wir Bartók als Wegweiser. Ihm geben wir vielleicht am liebsten den Kleinen Finger, schrieb er doch Musik, die uns nicht so unvertraut erscheint, eben weil sie aus der Musik des Volkes schöpft. Bartók andererseits orientierte sich an Schönberg:

"Schönberg sagt in seiner 'Harmonielehre', dass die Durchführung der Sonatenform in gewisser Hinsicht als Keim des Atonalen aufzufassen sei. Das ist so zu verstehen: Die Durchführung schaltet die ausschließliche Vorherrschaft zweier Tonarten (wie in der Exposition) oder einer (in der Reprise) aus, an deren Stelle sie eine gewissermaßen freier gewählte Aufeinanderfolge verschiedener Tonarten setzt, von denen jede einzelne - sei es auch noch so vorübergehend - immer genau noch als Tonart empfunden wird. Mit anderen Worten: In der Durchführung herrscht eine Art Gleichberechtigung der zwölf Tonarten."

Bártok verweist auf "die Häufung alterierter Akkorde in der Nach-Beethovenschen Zeit, die immer freiere Verwendung der Wechsel- und Durchgangsnoten über meistens allerdings noch tonal wirkenden Akkorden." In manchen Partien sei die Tonalität bereits entschieden aufgehoben worden. Bartók operiert noch - obwohl die Taktlänge rasch wechseln kann - mit Takten. Schönberg, Berg, Webern aber schneiden die Komposition nicht mehr in Teile, heben die Grammatik auf.

"Die entscheidende Wendung zum Atonalen hin begann aber erst ..., als man anfing, die Notwendigkeit der Gleichberechtigung der einzelnen zwölf Töne unseres Zwölfton-systems zu empfinden, als man versuchte, ... die einzelnen Töne in jeder beliebigen, nicht auf Skalen-Systeme zurückführbaren, sowohl horizontalen als auch vertikalen Zusammen-stellung zu gebrauchen. ... Die Ausdrucksmöglichkeiten werden durch die freie und gleiche Behandlung der einzelnen zwölf Töne in einstweilen unübersehbar großem Maße vermehrt."  

Die Komponisten waren sich sicher: wenn jetzt komponiert wird, kann das, darf das nur so sein.  Das heißt auch, etwas zweimal zu sagen, kann nur bedeuten, Überflüssiges zu sagen. Welche Anmaßung! In der Zeit der Ersten Wiener Klassik war es gerade umgekehrt: Ein Thema wurde vorgestellt, wiederholt, Nebengedanken entwickelt, dann noch einmal wiederholt und nun die Nebengedanken integriert, am Schluss wurde das Fazit gezogen. So war es zur Zeit, die den Anspruch erhob, ebenfalls maßgeblich, klassisch geworden zu sein, nämlich zur Zeit der Zweiten Wiener Klassik,  nicht mehr.  Nicht mehr das Tongeschlecht wurde gewählt, sondern eine Tonreihe definiert, an die man sich zu halten hatte, mit der man einen sinnvollen Gedanken ausführte, und Schluss. Bilder zum Beispiel wurden ja auch nicht mehr liebevoll detailreich koloriert. Meingott, der Weltkrieg war ja gerade vorbei, geschönte Geschichten wollte man nun nicht mehr erzählen. Hinschauen! Hinschauen! oder Hinhören!  Was heißt das? Das heißt Abschied von der Vorstellung, dass ich etwas antizipieren kann und es auch so oder prinzipiell so eintreffen wird. Auf's Konzert bezogen bedeutet das: Ich muss dicht am Geschehen bleiben, muss bei jedem Schritt hellwach sein. Das heißt, was Luigi Nono, im übrigen Arnold Schönbergs Schwiegersohn, einer Komposition zum Titel gab: "No hay caminos, hay que caminar": Es gibt keine Wege, man muss Wege schaffen. Und das ist doch auch ein schönes Motto für's Leben!