TRADITION IST NICHT DIE ANBETUNG DER ASCHE, SONDERN DIE  WEITERGABE DES FEUERS

 

Jüdische Musik ist „diejenige Musik, die von Juden für Juden als Juden gemacht wurde“ - so die Definition des Musiktheoretikers Curt Sachs. Synagogale Musik, jiddische Lieder und Klezmer-Wendungen werden leichter als jüdische Musik (an)erkannt als jene Kunstmusik, die aus liturgischen Tonarten und chassidischer Melodik einen jüdischen Stil destillierte.

Diese jüdische Musik war Teil einer kulturellen Erneuerung,, die am Ende des 19. Jahrhunderts begann, als die Haskala, die jüdische Aufklärung, durch den Kulturzionismus überwunden wurde. Während jüdische Dichter die Heilige Sprache und die kanonischen Schriften zur Quelle einer neuen säkularen Literatur machten, fanden jüdische Komponisten in der Liturgie und in der Folklore die Quelle einer der Moderne angemessenen jüdischen Musik.

1908 wurde in St. Petersburg die Gesellschaft für jüdische Volksmusik gegründet, der sich Komponisten wie Joseph Achron und Lazare Saminsky anschlossen, die aus der traditionellen Musik eine spezifisch jüdische musikalische Sprache formten.

Die Oktoberrevolution bedeutete auch einen kulturellen Zusammenbruch, die Petersburger Gesellschaft stellte ihre Arbeit ein.

1920 verlagerte sich das Zentrum der jüdischen Musik nach Moskau. Hunderte von Werken, überwiegend Kammermusik, entstanden zwischen 1923 und 1929, dem Jahr der wiederholten Auflösung.

Unterdessen aber war das Interesse an moderner jüdischer Musik über Russland hinaus nach Mitteleuropa gelangt, wo der 1928 in Wien gegründete Verein zur Förderung jüdischer Musik die Arbeit fortsetzte. In Anlehnung an die Wiener Schule der Neuen Musik, zu der Komponisten wie Arnold Schönberg und Alban Berg gehörten, ebenso wie in Anlehnung an die Neue Russische Schule, zu der Komponisten wie Modest Mussorgsky und Nikolai Rimski-Korsakow gezählt werden, etablierte sich die Bezeichnung Neue Jüdische Schule, die die ästhetische Bemühung um eine aus der Tradition genährte moderne Musik jüdischer Prägung suggerierte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die jüdische Mussik der Moderne wenig wahrgenommen, und wenn, dann unter dem Etikett der verfemten Musik - sie litt unter einem doppelten Hindernis: Als moderne Musik galt sie als schwer zugänglich, als verfemte Musik galt sie als dokumentarische Kunst. Beides ist falsch. Komponisten wie Joseph Achron, Julius Engel, Joachim Stutschewsky, Lazare Saminsky und Alexander Weprik haben jüdische und europäische Tradition zu einer eigenständigen melodischen Sprache verflochten - zu einer Musik, die zum europäischen Kanon gehört. (Quelle: Stefana Sabin: Booklet zur CD Hebräische Melodie)

Arthur Vincent Lourié dem Petersburger Großbürgertum entstammend, war damit in einer ganz anderen Atmosphäre zu Hause, ganz abgesehen davon, dass er eigentlich stets in seiner Kompositionsentwicklung der Zeit voraus war. Schon im Jahre 1914 fügte er zwölftönige und nicht-zwölftönige Tonkomplexe in eine krebsläufige Reihenordnung. 1915, in seinen Formen in der Luft schuf er den Urtyp dessen, was als "graphische Komposition" fünfzig Jahre später kompositorische Aktualität erlangen sollte. Doch bereits um 1916/17 wandte er sich von diesen experimentellen Höhenflügen ab und einer überschaubar-fasslichen neodiatonischen, von folkloristischen Modellen beeinflußten "Neuen Einfachheit" zu.  Lourié schloss sich den Futuristenkreisen an und wurde unter Lunatscharskij Musikkommissar, kehrte jedoch 1922 von einer Auslandsreise nicht wieder zurück in die Sowjetunion.



Josef Isidorowitsch Achron
(1886 Losdsieje, Gouv. Suwalki/Litauen - 1943 Hollywood)

Achron erhielt den ersten Violinunterricht im Alter von fünf Jahren bei seinem Vater, bereits drei Jahre später trat er zum ersten Mal in Warschau auf. Am Petersburger Konservatorium studierte er bis 1904 Violine bei Leopold Auer und Komposition bei Anatolij Ljadow. 1904 ging er nach Berlin und lebte dort als konzertierender Künstler. 1907 kehrte er nach Russland zurück. 1913 siedelte er nach Kharkow (Ukraine) über und wurde Leiter der Violin- und Kammermusikklassen am dortigen Konservatorium.
Zwischen 1916 und 1918 nahm Achron im Musikkorps der Russischen Armee am Ersten Weltkrieg teil. In den Jahren nach dem Krieg machte er ausgedehnte Tourneen als Solist in Europa, dem Nahen Osten und Russland. Zwischen 1919-21 komponierte er Bühnenmusiken für das Hebräische Kammertheater in Petrograd. Dann wurde er Leiter der Meisterklassen für Violine und Kammermusik der Leningrader Künstlervereinigung.
Achron emigrierte 1922 und lebte bis 1924 erneut in Berlin. 1925 übersiedelte er in die USA und ließ sich in New York nieder, wo er am Westchester Konservatorium Violine lehrte. Seine Golem-Suite, geschrieben in der Zeit in New York, nahm am IGNM-Festival in Venedig 1932 teil. 1934 zog er nach Hollywood um, komponierte Filmmusik und setzte seine Karriere als Konzertgeiger fort. Seine drei Violinkonzerte (das letzte im Auftrage von Heifetz) wurden von amerikanischen Spitzenorchestern aufgeführt.
In den meisten seiner Werke zeigen sich Elemente der russischen jüdisch-nationalen Schule (er gehörte 1908 zu den Gründern der Gesellschaft für jüdische Volksmusik), doch unter den Kompositionen seiner späten Zeit finden sich auch atonale und polytonale Werke.

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Lazar Saminskij
(1892 b. Odessa - 1959 New York)

Lazar Saminskij studierte zunächst Mathematik, dann Komposition bei Ljadow, Tscherepnin und Rimskij-Korssakow. 1907 war er einer der Gründer der Petersburger Gesellschaft für jüdische Volksmusik. 1911-19 lebte er in Tbilissi, Saminskij war auf der Suche nach einem wirklich ganz authentisch jüdischen Material. Und so ist er auf seinen Expeditionen in entlegene Gebiete des Kaukasus zu einer bestimmten Schicht jüdischer Musik vorgestoßen, die einen sehr alten Ursprung hatte, auf die sogenannten Bibelkantilationen. Das sind Klangmuster, Tropen, nach denen im Gottesdienst Texte aus der Tora auf eine Weise vorgetragen werden, die sich gleitend im Tonsystem bewegt, in gewisser Weise mikrotonale Strukturen hat. Also das, was dann als neue Tonsysteme vor allem in Russland durch Komponisten wie Wischnegradsky, Sabaneev oder Lourié entwickelt worden ist. Diese Kantilation ist heute noch immer der Modus, nach dem Texte aus der Tora im Gottesdienst "gelesen" werden.
Seit der Februarrevolution 1917 war Russland fortwährend im Umbruch. Diese erste Revolution brachte den Juden die vollen Bürgerrechte und der Gesellschaft für jüdische Volksmusik einen erheblichen Zulauf. Schon in den Jahren zuvor hatten sich auch in anderen Städten Dependancen gegründet. Nach dem 1. Weltkrieg und der Oktoberrevolution aber, verschlechterte sich die wirt schaftliche Lage im Lande so rapide, dass viele der aktiven Mitglieder der Gesellschaft das Land verließen und woanders ihr Glück suchten. 1919 stellt die Gesellschaft für jüdische Volksmusik ihre Arbeit ein. Lazare Saminskij geht nach einigen Zwischenstationen in Jerusalem, Paris und London nach New York und macht dort eine berufliche Karriere als Dirigent, Präsident des US-amerikanischen Komponistenverbandes und schließlich 1922 als Musikdirektor der größten Reformsynagoge New Yorks.

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Alexander Moissejewitsch Weprik
(1899 Balta b. Odessa -1958 Moskau)

Weprik begegnete Schönberg 1927. Größeren Einfluß auf sein Schaffen hatten jedoch Bartók und Hindemith. 1930 wurde er Professor am Moskauer Konservatorium. Auch Weprik gehörte zu den Begründern der Jüdischen Nationalen Schule. Seine jüdischen Kompositionen datieren aus den 20ern, danach schwenkte er in die Parteilinie ein und mied jüdische Themen. Er war jedoch mutig genug, während des Disputs über Lady Macbeth von Mzensk 1936 an Schostakowitschs Seite zu stehen. Während der antisemitischen stalinistischen Säuberungsmaßnahmen wurde er 1950 in ein Lager interniert, wo er vier Jahre, bis zu Stalins Tod, zubrachte.
Die ursprünglich aus Polen stammende jüdische Familie emigrierte aus Angst vor polnischen Pogromen nach Deutschland. Sehr früh sein Talent zeigend, wurde Weprik im Alter von 10 Jahren von seiner Mutter nach Leipzig gebracht, um am dortigen Konservatorium zu studieren. Er blieb fünf Jahre und studierte bei Max Reger Komposition und bei Carl Wendling Klavier. Als der erste Weltkrieg 1914 ausbrach, galt die Familie als "feindliche Ausländer" und musste nach Russland zurück gehen. Weprik setzte 1918-21 seine Studien am St. Petersburger Konservatorium bei W. P. Kalafati und A. M. Zhitomirskij fort. Von 1921-23 nahm er noch einmal Kompositionsunterricht bei N. J. Mjaskowskij in Moskau. 1923 wurde er selbst eingeladen, Instrumentation zu lehren.
1927 wurde er nach Europa geschickt, um in Deutschland, Frankreich und Österreich Musikinstitutionen und Regierungsprogramme zur Musikerziehung zu studieren. Hier traf er Schönberg, lehnte für sich jedoch die Zweite Wiener Schule als zu ausgeklügelt ab; großen Einfluss auf sein Schaffen hatten Bartók, Ravel, Honegger und Hindemith. 1930 wurde er Professor am Moskauer Konservatorium, von 1938-42 war er Leiter der Instrumentationsklasse. Weprik war auch Mitglied der Herausgeberbeiräte von
Melos (1917-18) und von Musikalnoje obrasowanije (1925-29). Er saß in den 20er und frühen 30er Jahren in einigen Verwaltungskomitees, die sich mit der Reform des Bildungssystems befaßten.
Zusammen mit den Brüdern Krejn, Gnessin, Saminskij und Milner gehört Weprik zu den Begründern der Jüdischen Nationalen Schule. Seine jüdischen Kompositionen datieren aus den 20ern, danach schwenkte auch er in die Parteilinie ein und mied jüdische Themen. Eine Rezension seiner
Fünf Tänze für Orchester op. 17 in Sowjetskaja Musika bemerkt: "Der Komponist spricht über die Tänze nie als jüdisch. Und obgleich die ausländische Presse Weprik einen "sowjet-jüdischen Komponisten" nennt, gebietet die Gerechtigkeit, daß diese Definition streng eingegrenzt wird... Der Komponist selbst ist geneigt, von der jüdisch-ukrainischen Natur seiner Musik zu sprechen." Weprik war mutig genug, während des Disputs über Lady Macbeth von Mzensk 1936 an Schostakowitschs Seite zu stehen. Das Jahr 1940 findet ihn in Kirgisien - Opfer der offiziellen Politik, die die Intellektuellen auseinandertrieb. Während der antisemitischen stalinistischen Säuberungsmaßnahmen wurde er 1950 in ein Lager interniert, wo er vier Jahre, bis zu Stalins Tod, zubrachte. In seiner Gefangenschaft begann er die Kantate Narod - Geroy [Das Volk - Der Held], der fünfte Satz betitelt Ehre der Partei.

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