TRADITION IST NICHT DIE ANBETUNG DER ASCHE, SONDERN DIE  WEITERGABE DES FEUERS

 


Dr. Gabriel Iranyi

Norbert von Hannenheim's Streichquartett Nr. II und das Streichtrio Nr. 3:
Struktur und Bedeutung
für  das Kammermusik-Repertoire des 21. Jahrhunderts


Kurzfassung

Norbert von Hannenheim pflegte öfters seine Werke in Zyklen von 6 Werken zu konzipieren, die er mal mit arabischen, mal mit römischen Ziffern nummerierte. Bis heute wurden 4 Streichquartette gefunden: Nr. 9, Nr. II, Nr. IV, Nr. XI und von den vielen Streichtrios nur das Streichtrio Nr. 3. (Die GEMA verwahrt einen Zettelkatalog mit seinen angemeldeten Kompositionen: dieser enthält 50 Orchesterwerke, etwa 50 Kammermusikwerke, 23 Kompositionen für Klavier und etwa 80 Stücke Vokalmusik.)

Hannenheims Musik wurde schon Ende der 20-er und Anfang der 30-er Jahre von solchen Persönlichkeiten wie Arnold Schönberg, Hans Heinz Stuckenschmidt und Alban Berg anerkannt. H.H. Stuckenschmidt schrieb in „Modern Music“ Band X 1932 / 33, S. 16: „Die Individualität seines Stils liegt in perfektem tonalem Gleichgewicht und findet Ausdruck in einem Reichtum von Intervallen, der jede Note, jedem Akkord, jede horizontale und vertikale Linie der Struktur miteinander verbindet.“

Die Beleuchtung der Struktur zweier Streichquartette und seinem Streichtrio Nr. 3 soll für eine bessere Verbreitung seiner kammermusikalischen Werken im internationalen Konzertleben und der Bereicherung des Repertoires dienen.


Langfassung

Norbert von Hannenheim (1898 – 1945) war ein besonders profilierter Komponist. Der Musikwissenschaftler Peter Gradenwitz* berichtet in seinem Buch „Arnold Schönberg und seine Meisterschüler“ - Berlin 1925 – 1933: „Für Hannenheim waren die frühen dreißiger Jahre eine Zeit hektischer Beschäftigung; er komponierte viel, und die Zahl der Aufführungen seiner Werke stieg von Jahr zu Jahr.“ Die GEMA verwahrt einen Zettel-katalog mit seinen angemeldeten Kompositionen: dieser Katalog enthält 50 Orchester-werke, etwa 50 Kammermusikwerke, 23 Kompositionen für Klavier und etwa 80 Stücke Vokalmusik.

Norbert von Hannenheim pflegte seine Werke häufig in Zyklen von 6 oder 12 Werken zu konzipieren, die er entweder mit arabischen, oder mit römischen Ziffern nummerierte. Bis heute wurden 4 Streichquartette gefunden: Nr. 9, Nr. II, Nr. IV, Nr. XI und von seinen vielen Streichtrios nur das Streichtrio Nr. 3. Schon Ende der 20-er und Anfang der 30-er Jahre fand Hannenheim's Musik Anerkennung, darunter solche Persönlichkeiten wie Arnold Schönberg, Hans Heinz Stuckenschmidt und Alban Berg.

H.H. Stuckenschmidt schrieb in „Modern Music“ Band X 1932 / 33, S. 16: „Die Individualität seines Stils liegt in perfektem tonalem Gleichgewicht und findet Ausdruck in einem Reichtum von Intervallen, der jede Note, jedem Akkord, jede horizontale und vertikale Linie der Struktur miteinander verbindet.“ Weitere Zeugnisse der Anerkennung und Hochachtung kamen sowohl von Alban Berg – siehe seinen Antwortbrief vom 20. Juni 1929 - und nicht zuletzt durch den im Mai 1933 zugesprochenen Emil-Hertzka-Preis, dessen Jurymitlieder Alban Berg, Anton von Webern, Ernst Krenek, Franz Schmidt, Erwin Stein und Egon Wellesz waren.

Die Beleuchtung der Struktur seines Streichquartetts Nr. II und seines Streichtrios Nr. 3 soll für eine bessere Verbreitung seiner kammermusikalischen Werke im internationalen Konzertleben und der Bereicherung des Repertoires dienen.

Die Untersuchung der Kompositionen Hannenheim's geschieht leider unter äußerst schweren Bedingungen. Untersucht man die Werke für Streichquartett oder Streichtrio von bdeutenden Komponisten wie Arnold Schönberg (4 SQ, 1 T), Bela Bartók (6), George Enescu (2), Gian Francesco Malipiero (8), Anton Webern (6 SQ, 1 T) oder Alban Berg (2), so entsteht als Resultat eine stilistisch und in ihrer Entfaltungen klar kontu-rierte Gruppe, welche die kreative Entwicklung der jeweiligen Komponisten deutlich zeigen. Ganz anders im Falle Hannenheims: ein Berufsverbot als 12-Ton-Komponist und Schönberg-Schüler während der Nazzidiktatur und die Zerstörrung seiner Werke während der vielen Bombardements ließen für die nachkommende Generationen nur einen Torso von ca 50 Stücken, von insgesamt 203 Werken, die bei der GEMA gemeldet wurden.

Von seinen Streichtrios ist bis heute nur das Trio Nr.3 geblieben. Hier läßt sich wieder vermuten, daß dieses Werk von einer größeren Gruppe von 6 Streichtrios stammen könnte.

Hannenheim stand im Schriftwechsel mit Arnold Schönberg (1927 ) und Alban Berg (1928). Bevor er 1929 in Schönbergs Meisterklasse eintrat, schrieb er an Alban Berg und sandte ihm die Partitur seines gerade vollendeten Streichtrios Nr. 3 zu.

Der 30-jährige Norbert von Hannenheim konzipierte sein Streichtrio Nr. 3 in zwei Sätzen: I. Satz: Andante con moto und II. Satz: Allegro. Im I. Satz gelingt es ihm, mehrere Aspekte seiner Kompositionsmittel unter einem originellen Konzept zu vereinen. Sein Gestus ist postromantisch-expressiv, seine motivisch-thematischen Ausarbeitungen zeigen lineare Komplexität, während die resultierenden Harmonien in den Bereich der Atonalität eindringen.




Die Dreiteiligkeit des I. Satzes zeigt ebenfalls ein sehr originelles Konzept: ein über 43 Takte langes Thema wird zuerst von der Viola fortgetragen, danach vom Violoncello (notengetreu) und zum dritten Mal von der Violine. Bereits mit dem Themeneinsatz des Violoncellos finden neue kontrapunktische Entwicklungen statt: die Violine (Takte 44 – 50) startet ihre Achtelnoten-Pizzicati, welche nach 7 Takten von der Viola (Takte 51-53) übernommen werden. Die komplexesten Entwicklungen finden im 3. Teil statt: diese letzte Wiederholung des Themas durch die Violine umfasst insgesamt die doppelte Taktzahl (86 Takte), weil der Komponist vor jedem 3/4-Takt einen 4/4-Takt einschiebt. Die dadurch entstandenen Zeiterweiterungen bringen die vom Komponisten gewünsch-ten Asymmetrien. Auf diesem Weg entsteht eine komplexe Barform A + A1 + B, wobei der letzte Teil eine Synthese und Weiterentwicklung der motivisch-thematischen Elemente  darstellt. Sein langatmiges Thema (43 Takte) kann als Spätnachkomme der wagnerischen „unendlichen Melodie“ gesehen werden. Vielen seiner melodischen und rhythmischen Strukturen gelingt - auf lange Strecken - , keine Wiederholungen zuzulassen, was somit eine Annäherung an die Ästhetik der Zweiten Wiener Schule verdeutlicht.




3/4            Hauptthema, rhythmische Struktur           



Der II. Satz, Allegro, kombiniert polyphone Techniken mit motivisch-thematischen Varia-tionen. Er beginnt mit einem energischen Hauptthema, im kraftvollem Fortissimo-Unisono (Takte 1-2). Bereits im 3. Takt setzt das Violoncello einen ersten Kontrapunkt, während Violine und Viola das Thema in Unisono fortsetzen: Es ist eine energetische Musik, voller Spannung und rhythmischer Relevanz.


Die Gesamtform entsteht als Resultat einer Kette von polyphonen Entwicklungen: sie umfasst 8 Durchführungen und 4 Episoden, welche unterschiedlichste polyphone Tech-niken einbeziehen. In Takt 148 erscheint ein Nebenthema mit kontrastierendem lyri-schem Charakter. Dieser wird gleichfalls gefolgt von komplexen polyphonen Entwick-lungen und diese führen zu einem Epilog (Takt 177 – 197): die  drei Streichinstrumente erreichen ein kräftiges Fortissimo und werden auf unterschiedliche motivisch-thema-tische Aspekte verteilt. Das Violoncello intoniert 14 Takte, ein figuriertes Pedal auf der Note g, während Violine und Viola ihren polyphonen Linien eine allmähliche Steigerung des Ausdrucks verleihen. In der Coda (Takte 198 – 208) übernimmt die Violine das Hauptthema in Augmentation (punktierte Halbenoten), und der Satz endet im kraftvollen Fortissimo des Anfangs.


Das Streichtrio Nr.3 verweist auf rege kompositorische Beschäftigung mit Fragen der Form und polyphonen Techniken. Die letzteren sollten die Gesamtform nachträglich beeinflussen und neue Richtungen für Hannenheim geben. Einige von ihm bevorzugte polyphone Mitteln sind
- die motivische Variation im Rahmen von komplexen mehrstimmigen Strukturen,
- die Einbeziehung von Kontrapunkt (I.Satz, Takt 33, Violine: Achtelnoten Pizzicati)
- die Umwandlung des Hauptthemas in einem Cantus firmus (II.Satz, Vlc., Takt 32 und Takt 37,   Viola, Takt 115),
- Pedal im Epilog des II.Satzes (Takte 117- 190),
- Augmentation (II.Satz,Violine, Takt 198)

Peter Gradenwitz erwähnt in seinem Buch die Aufführungen von drei Streichquartetten von Norbert von Hannenheim, die 1931 im Rahmen der Else-C.-Kraus-Konzerte stattgefunden haben. Leider kann man daraus nicht feststellen, von welchem seiner Streichquartette die Rede ist, weil der Komponist sie mal mit arabischen, ein andermal mit römischen Zahlen nummeriert hat.

Von allen seinen verbliebenen Streichquartetten zeigt das Streichquartett Nr. II exemplarisch eine gesteigerte Beschäftigung mit polyphonen Strukturen: diese ziehen wie ein roter Faden durch alle 3 Sätze und wirken entscheidend auf den Aufbau der Gesamtform hin. Ich würde daher dem Streichquartett Nr. II den Beinamen „Polyphonia“ geben, und zwar wegen der konsequenten und exklusiven Präsenz der Mehrstimmigkeit: die Musik ist durchaus 12-tönig, die Komplexität ist extrem und die Homophonie (Akkorde und begleitenden Stimmen) existiert hier überhaupt nicht mehr.

Im I. Satz, Molto vivace, wird das klassische Sonatenformprinzip eher angedeutet als de facto etabliert: vielmehr sucht Hannenheim zu dieser Problematik eigene, originelle Lösungen.

Das Hauptthema strahlt Energie aus und entwickelt seine facettenreichen Motive aus der Grundtonreihe (serie de baza) g-d-cis-ais-h-c-es-f-e-gis-fis-a. Das thematische Material wird zuerst von der I. und II: Violine simultan exponiert:





Durch motivische Variation und polyphone Synthesen entwickelt sich ein erster Themen-block von 35 Takten. Der Komponist verwendet dafür nur diese einzige Grundtonreihe: er braucht weder Transpositionen, noch den Krebs, und auch keine Umkehrung oder  Umkehrungskrebs-Formen.

Das Seitenthema artikuliert einen dualistischen Kontrast: die ruhige Kantilene wird – wie das Hauptthema – ebenfals polyphon, meistens zweistimmig exponiert. Die Ruhe in der Rhythmik und in der Nuancierung pp realisieren einen beeindruckenden Kontrast zum ersten Themenblock. Diesmal meidet der Komponist die äußerst komplexen Entwick-lungen. Das Tonmaterial basiert exklusiv auf einer zweiten 12-Ton-Reihe c-des-es-d-h-b-a-ges-f-e-g-as.








In der 3. Etappe findet eine Synthese beider Themen statt, als Verschmelzung zweier Formen: der Fuge und der Sonate. Hannenheims Lösung ist das Übereinanderschichten beider Themen, ihre charakteristischen Merkmale werden auch diesmal beibehalten: das Seitenthema in den beiden Violinen bleibt sempre pp, während Violoncello und Viola das Hauptthema forte spielen (Takte 53 -63):

Eine Vielfalt von motivisch-polyphonen Synthesen zeigt der Epilog des 1. Satzes: Haupt- und Seitenthema drängen in in die immer dichter gewordene Struktur hinein, ihre dynamischen Steigerungen führen zum Schluss zu energetischen Entladungen.















Der II.Satz, Molto largo, ist als Ricercar wie auch als Doppelfuge mit 2 Themen A und B zu verstehen. Die verwendeten Techniken zeigen freie Imitationen – mit Einbeziehung einer Vielfalt an rhythmischen Variationen beider Themen – und bis hin zu den Augmentationen:
- Violoncello, Takte 6-9, mit dem Thema-B und
- Violoncello, Takte 10-12, mit dem Themenkopf-A.

Das erste erste Thema-A ist in ruhigen Viertel- und Achtelnoten notiert und durchaus p und dolce nuanciert, während das zweite Thema B einen leichten Kontrast bringt, durch seinen etwas kapriziösen Rhythmus und Artikulation.

Die maximale polyphone Dichte wird in den letzten Takten 12-18 erreicht. Die Lautstärke bleibt beim p und pp durchaus konstant, bis zum Schluss dieses kurzen, nur 18 Takte dauernden Satzes. Die allmählich wachsende Komplexität verleiht der Musik immer mehr Tiefe und Grund zur Reflexion.




Der III.Satz, Presto, exponiert am Anfang als thematisches Material eine 12-Ton-Reihe:
d-e-b-as-g-fis-c-cis-a-es-f-h.

Auch dieser Satz ist – wie die beiden vorigen – den kontrapunktischen Entwicklungen gewidmet. Das erste Thema A ist zuerst im Unisono exponiert und wird von mehreren Engführungen gefolgt, wobei das serielle Material öfters fragmentarisch erscheint. Das zweite Thema B wird im Stretto mit dem ersten-Thema A (Unisono) und als Kanon zwischen Violoncello und der ersten Violine exponiert. Der Komponist versucht in mehreren Etappen, die beiden Themen – und 12-Ton-Reihen – zu verschmelzen, eine Technik, der wir schon im I. Satz des Quartetts begegnet sind. Die Unisoni  unterbrechen dreimal die polyphonen Klangblöcke und markieren die Eckpunkte des formalen Aufbaus:

- das Einführen des Zweiten-Themas-B, Takte 11 – 14,- das Unterbrechen einer längeren polyphonischen Durchführung, Takte 39 – 42,- als Epilog: beide Themen in Unisoni werdem simultan übereinander geschichtet, bevor die kürzeste Engführung, zum Schluss des Satzes, die beiden Themen nur fragmentarisch erklingen läßt.